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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler
Autoren: Monika Feth
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Landstraße und ich hatte noch immer keinen Plan. Mein Kopf war leer. Die Panik hielt meine Gedanken in Schach. Ich sah auf die Uhr. Die Ziffern tanzten vor meinen Augen. Meine Hände zitterten.
    Lauf weiter.
    Wieso fuhren auf dieser Straße keine Autos? Wo waren die Traktoren, die hier durch die Gegend tuckern sollten? Schon ein einsamer Fahrradfahrer hätte mich glücklich gemacht.
    Jetzt fing ich auch noch an zu heulen. Und dann vertrat ich mir den rechten Fuß. Ich hockte mich hin und rieb mir den Knöchel. Die Tränen vermischten sich mit dem Schleim, der mir aus der Nase lief. Ich schniefte, fand kein Taschentuch und benutzte den Ärmel, um mir das Gesicht abzuwischen.
    Vorsichtig kam ich wieder auf die Füße. Schritt für Schritt bewegte ich mich vorwärts, spürte neben dem stechenden Brennen ein Knacken und Knirschen im Knöchel. Ich hinkte, zog den Fuß nach. Bilder vom Glöckner von Notre-Dame schossen mir durch den Kopf. Die Sehnsucht nach einem geschützten Ort überfiel mich mit einer Heftigkeit, die mich aufs Neue zum Weinen brachte.
    Weit abseits der Straße konnte ich den Bauernhof erkennen. Hatte es Sinn, dorthin zu laufen und um Hilfe zu bitten? Es gab doch in jedem Haus die Möglichkeit zu telefonieren. Aber was, wenn die Bewohner unterwegs waren? Dann hätte ich kostbare Zeit verloren.
    Denk nach!
    Ich beschloss, weiterzulaufen, im Ort die Polizei zu informieren, schnell die Einkäufe zu erledigen und zurückzukehren.
    Reiß dich zusammen! Hör auf zu flennen! Lauf!
    Ich lief, so schnell ich konnte. Bis ich meinen Knöchel, meine Füße, meine Beine nicht mehr spürte.
     
    »Dieser Mann kommt mich manchmal besuchen.« Frau Sternberg sah von dem Foto auf, das einen weißhaarigen, betagten Herrn mit Schnurrbart zeigte. »Er behauptet, ich wäre seine Frau.« Sie lachte leise. »Dabei ist mein Mann jung. Und stark.«
    Bert fragte sich, warum er immer wieder in solche Zwickmühlen geriet. Die Zeit drängte und er saß hier herum und lauschte den Phantasien einer verwirrten alten Frau. Vielleicht sollte er einen dieser Kurse besuchen, die heutzutage überall angeboten wurden. In denen man lernte, NEIN zu sagen.
    Tante Sophie. Tante Mariechen. Onkel Karl. Verblasste Bilder aus einer Zeit, an die Frau Sternberg sich besser erinnerte als an das, was in den vergangenen Wochen geschehen war. Generationen von Hunden, die im Garten tollten. Senta. Asta. Zarah. Arco. Kinder in Sommerkleidchen, in Schneeanzügen, am ersten Schultag, beim Auspusten von Geburtstagskerzen.
    »Bald gehe ich wieder heim.«
    Zärtlich berührte Frau Sternberg mit den Fingerkuppen ein Foto, das ein Haus und ein Stück Garten zeigte.
    »Ich bin nämlich nur zur Erholung hier. Bis der Krieg vorbei ist. Verstehen Sie?«
    Bert nickte. Er überlegte, wie er sich verabschieden könnte, ohne sie zu verletzen. Er fragte sich, ob überhaupt irgendetwas den Weg in dieses vom Alter zerstörte Gehirn finden konnte. Er entschloss sich zur Wahrheit.
    »Ich muss aufbrechen, Frau Sternberg. Jette ist verschwunden und ich muss sie suchen.«
    Sie neigte den Kopf zur Seite und lächelte ihn an. Ihre Augen waren immer noch schön. Obwohl die Jahre ihre Spuren hinterlassen hatten.
    »Jette?« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ich würde niemals erlauben, dass ihr etwas geschieht.«
    »Davon bin ich überzeugt.« Bert stand auf.
    »Sie hat einen Schutzengel. Wir alle haben einen. Auch Sie, junger Mann.«
    Bert fühlte, wie mit spitzen Fingern die Traurigkeit nach ihm griff. Weisheit und Verwirrung, wie nah das beieinanderlag.
    »Engel lieben das Meer.«
    Frau Sternberg zeigte auf das Foto einer kleinen Bauernkate.
    »Genau wie Jette und ich. Schauen Sie nur, wie schön es dort ist.«
    Wie Jette. Das Meer.
    Vorsichtig setzte Bert sich wieder hin. Er vermied jedes Geräusch und jede Bewegung, um den Gedankenfluss der alten Dame nicht zu stören. Etwas passierte. Er spürte es von den Haarwurzeln bis in die Zehenspitzen.
    »Wenn die Bauern pflügen, sind die Felder weiß von Möwen«, erzählte Frau Sternberg. »Die picken in dem aufgewühlten Boden nach Würmern und ziehen sie mit dem Schnabel heraus.«
    Wollte er sich ernsthaft auf die Worte einer demenzkranken alten Frau verlassen? Ja. Das wollte er. Weil sein Instinkt ihm sagte, dass es richtig war.
    »Ein kleines Haus für die Ferien«, sagte Frau Sternberg träumerisch. »So einsam gelegen, dass man die Stille hören kann.«
     
    Auch der Ort war menschenleer. Keiner putzte Fenster, harkte Laub zusammen
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