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Der reiche Mann

Der reiche Mann

Titel: Der reiche Mann
Autoren: Georges Simenon
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seufzte, und fast unmittelbar danach schlief sie ein. Sie bewegte den Arm, wußte nicht, wohin sie ihn legen sollte.
    »Gute Nacht, Liebste.«
    Es war das erste Mal, daß er sie so nannte. Sie antwortete mit einer leisen Stimme, die schon aus weiter Ferne kam: »Gute Nacht.«
    Sie atmete tiefer und regelmäßiger.
    Er spürte ihren ganzen Körper an seinem und war so bewegt, daß ihm Tränen in die Augen stiegen.
    Warum mußte Jeanne morgen wiederkommen? Er empfand die Verpflichtung, mit ihr zu leben, als eine Ungerechtigkeit. Weil er eines Tages vor mehr als zwanzig Jahren mit ihr getanzt, weil er geglaubt hatte, sie werde eine tüchtige Ehefrau werden, verweigerte man ihm das Recht, den Menschen zu lieben, der ihm gefiel.
    Das ganze Dorf tat das. Er verstand die Blicke, die man ihm zuwarf, und er konnte sich gut vorstellen, was die Frauen hechelten.
    »Wenn das nicht ein Unglück ist, einem jungen Mädchen so nachzustellen. Und wie kann sie sich mit einem Mann seines Alters so einlassen! Er profitiert vom Unglück der anderen. Wenn seine Schwägerin nicht gestorben und seine Frau nicht nach Cholet gefahren wäre…«
    Theo grinste nur noch. Es war, als ob sie alle auf etwas hofften. Aber auf was?
    Jahrelang war er der starke Mann gewesen, der Chef, der reiche Mann der Gegend, und niemand machte ihm seine Überlegenheit streitig.
    Jetzt, da ihn ein Mädchen um den kleinen Finger wickeln konnte, war er von seinem Sockel heruntergestiegen. Er war nicht nur ein Mensch wie die anderen geworden, sondern er war verletzlicher als jeder Bewohner des Dorfes und machte sich lächerlich.
    Alice bewegte den Kopf. Lecoins Brust war hart, und ein wenig später glitt ihr Kopf im Schlaf aufs Kissen.
    Er hätte gewünscht, daß diese Nacht nie endete. Er war nicht müde. Er dachte nach. Unaufhörlich sah er das weiße Gesicht und die fast männliche Gestalt seiner Frau vor sich. Er wollte nicht traurig sein. Er war sicher, daß das alles wieder ins Lot käme. Es mußte um jeden Preis ins Lot kommen.
    Wenn Jeanne Alice wegschickte, würde er auch nicht im Hause bleiben.
    Er hätte Alice eine kleine Wohnung in La Rochelle mieten und sie jeden Tag dort besuchen können. Aber das wäre nicht das gleiche. Er brauchte sie den ganzen Tag und die ganze Nacht, ihre Gegenwart, mußte sie sehen und mit ihr sprechen.
    Sie schlief tief, zog ein Schippchen wie ein kleines Kind.
    Er grübelte und grübelte, wurde schließlich müde, weil er unaufhörlich das gleiche Problem wälzte, und schlief dann doch ein. Zweimal in der Nacht wachte er auf. Beide Male tastete er nach ihr, um sich zu vergewissern, daß sie da war.
    Schließlich hörte er ein leises Geräusch. Sie stand behutsam auf und zog sich im Dunkeln an.
    Dann öffnete sie die Tür, ging die Treppe hinunter und kochte unten wie jeden Tag den Kaffee.
    Es war Morgen, aber die Sonne würde erst in zwei Stunden aufgehen.
    Er zog seinen Pyjama an und streifte Morgenrock und Pantoffeln über. Sein Haar war zerzaust, auch sie hatte sich noch nicht gekämmt. Sie hatten sich außerdem beide noch nicht gewaschen, und das verstärkte noch das Gefühl ihrer Verbundenheit.
    »Hast du gut geschlafen?«
    »Ja. Ich glaube, ich bin in der Nacht kein einziges Mal aufgewacht.«
    »Du bist mit dem Kopf auf meiner Brust eingeschlafen und hast lange so gelegen.«
    »Wollen Sie Ihre Her jetzt?«
    »Nein. Wenn ich wieder herunterkomme. Ich trinke jetzt nur eine Tasse Kaffee.«
    Er trank sie in der Küche, wobei er sie unaufhörlich beobachtete. Er war nervös. Er hätte gern einen Cognac getrunken, damit seine Hände nicht mehr zitterten. Aber so früh am Morgen wagte er es vor ihr nicht.
    Er badete lange und sah dabei wieder Alice im Waschzuber vor sich. Dann rasierte er sich sehr sorgfältig, wie er das sonntags immer tat, wenn er Zeit hatte, sich seiner Toilette zu widmen.
    Er besaß einen schwarzen Anzug, der ihm schon ein bißchen eng war. Er hatte ihn vor zehn Jahren für eine Hochzeit machen lassen und trug ihn praktisch nie. Er hatte auch einen Hut aus der gleichen Zeit, denn für gewöhnlich setzte er eine Seemannsmütze auf, wenn er ausging.
    Die Sonne war aufgegangen, und ein paar leuchtendweiße Wolken zogen ziemlich schnell über den Himmel.
    Er ging hinunter in die Küche. In seinem sonntäglichen Gewand fühlte er sich nicht sehr behaglich. Diesmal goß er sich ein Glas Wein ein.
    »Werden Sie zum Abendessen zurück sein?«
    »Vielleicht etwas später.«
    Er streckte die Arme aus, und sie kam nicht
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