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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler
Autoren: Max Landorff
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erst, sie weinte.
    »Meine Mutter hat sich gemeldet. Danke, danke, Herr Tretjak. Meine Mutter ist so überglücklich. Danke, Herr Tretjak, wir wissen alle nicht, was wir sagen sollen.«
    »Ich verstehe gar nichts«, antwortete Tretjak und wurde für einen Augenblick ärgerlich, »wofür wollen Sie sich bedanken?«
    »Wofür? Meine Mutter hat alles erzählt. Wie ein Fahrer sie zum Flughafen gebracht hat, sie in ein Flugzeug gesetzt hat, in die erste Klasse. Und sie nach Buenos Aires geflogen ist. Meine Mutter. Zum ersten Mal wieder in Argentinien. Zum ersten Mal wieder bei ihrer Familie. Meine Mutter hat geweint vor Glück. Und alles haben Sie ermöglicht und bezahlt, Herr Tretjak. Sie sind ein so guter Mensch, ein so guter Mensch!«
    Tretjak wurde klar, dass es sinnlos war, das Missverständnis auflösen zu wollen. Denn ein Missverständnis musste es ja sein. Was sollte es sonst sein? Wer kam auf die Idee, eine Putzfrau in seinem Namen um die halbe Welt zu schicken, in der ersten Klasse? Gabriel Tretjak spürte eine Angstwelle, die seinen Körper hochwanderte. Er fragte die Tochter, wann die Mutter zurück sein würde und wieder zum Putzen kommen könne.
    »Nächste Woche, Herr Tretjak, aber Sie wissen das doch am besten. Nächsten Montag wird sie bei Ihnen sein, wie immer.«
    München, Gerichtsmedizin, 12 Uhr
    Die Gerichtsmedizinerin war eine freundliche, rundliche Frau mit schwäbischem Akzent. Man konnte gar nicht anders, als zu assoziieren: Spätzle, Linsen, Maultaschen. Kommissar Maler kannte sie schon lange, und jedes Mal fiel ihm der Kontrast auf – hier die Medizinerin mit ihrer sympathischen Fraulichkeit, dort die brutale Realität der Toten, die sie untersuchte.
    Im Fall des Mordes an Harry Kerkhoff hatte die Gerichtsärztin keinerlei Spuren gefunden, die direkte Rückschlüsse auf den Täter zuließen. Die Todesursache war ein Messerstich in die Leber. Es gab noch zwei weitere Messerstiche, einer hatte die Nierengegend getroffen, der andere die rechte Lunge. Die Messerstiche waren zielgerichtet so gesetzt worden, dass kaum Blut nach außen gedrungen war. Da hatte einer genau gewusst, was er tat. Wohl das Werk eines Profis. Die Mordwaffe musste ein spitzes, dünnes, sehr scharfes Messer gewesen sein, fast wie ein Dolch. Genaueres lasse sich im Moment noch nicht sagen.
    Der Zeitpunkt des Todes lag zwischen sechs und zehn Stunden vor dem Auffinden der Leiche in dem Pferdetransporter. Harry Kerkhoff hatte Alkohol im Blut gehabt, etwa 1,2 Promille. So viel habe man nach »drei Schöppele Wein«, wie es die Medizinerin ausdrückte.
    Was den Mord so besonders grausam machte, war die Tatsache, dass der Täter dem Opfer beide Augen entfernt hatte – mit einem runden, löffelartigen Gegenstand. Es könne eine Art Kugelzange verwendet worden sein, wie sie in Eisdielen zum Herausschaben der Eiskugeln gebraucht würde, erklärte die Ärztin. Man müsse davon ausgehen, dass die Augen beim Herausschälen nicht beschädigt worden seien – es sehe so aus, als habe der Täter sie mitnehmen wollen. Da das Entfernen mit hoher Präzision vorgenommen worden sei, müsse man davon ausgehen, dass der Täter das nicht zum ersten Mal gemacht habe. Maler suchte nach einer Reaktion im Gesicht der Ärztin, aber er fand nichts. Frau Doktor hatte sich gut unter Kontrolle.
    Eine Eiskugelzange. Als er das Wort hörte, wusste Maler, dass es wieder losgehen würde. Wenn er an sehr gewalttätigen Fällen arbeitete, begannen die Tagträume, wie er sie nannte. Plötzlich, mitten am Tag, tauchten diese Bilder auf. Immer nach dem gleichen Schema: Er sah die Szene, die er gerade erlebte, angereichert mit einer Katastrophe. Da sah er dann eine Kellnerin in einem Café, plötzlich voller Blut, und es fehlte ihr der rechte Arm. Oder er fuhr im Auto und sah vor sich auf der Straße einen schrecklichen Unfall mit vielen Leichen. Es dauerte immer nur ganz kurz, den Bruchteil einer Sekunde. Und war wieder weg. Als würde sein Blick durch kurze hineingeschnittene Bildsequenzen ergänzt.
    Maler hatte sich immer vorgestellt, diese Tagträume fungierten wie eine Art Transformator seines geschundenen Polizistenhirns. Die schlimmen Dinge, die er in seiner Arbeit erleben musste, würden als kleine Schnipselbilder ausgespuckt, damit er sie loswerden konnte. Diese Theorie hatte er zu seiner Beruhigung entwickelt, damit konnte er leben. Erzählt hatte er von diesen Bildern nie jemandem. Unter Polizisten gab es die stille Übereinkunft: Über die eigene
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