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Der Rauchsalon

Der Rauchsalon

Titel: Der Rauchsalon
Autoren: Charlotte MacLeod
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lebenstüchtige Sarah auf
den Gedanken gekommen, das Stadthaus auf dem Beacon Hill, Bostons nobelstem
Viertel aus dem frühen 19. Jahrhundert, in eine Familienpension zu verwandeln.
Über viele Jahre hinweg hat sie gelernt, mit einem Minimum an Haushaltsgeld
standesgemäß ein Haus zu führen. Warum sollte ihr dies nicht auch bei zahlenden
Gästen gelingen, die so das ihrige dazu beitrügen, den riesigen »Weißen
Elefanten‹ von Haus in ein Nutztier zu verwandeln, das sie so lange tragen
könnte, bis ihre Vermögenslage geklärt ist? Nur minimale Umbauten sind erforderlich,
dann kann sich Sarah unter den zahlreichen Bewerbern ihre Mieter aussuchen, die
die Aussicht, fortan in einem der größten alten Häuser bei den letzten der noch
auf dem Beacon Hill verbliebenen Aristokraten wohnen zu können, angezogen hat.
Natürlich ist die Familie zunächst schockiert — seit Generationen fungieren
Kellings als Chefs oder als Repräsentanten eigener Firmen, wenn sie überhaupt
arbeiten. Aber die resolute Sarah setzt sich über alle Einwände hinweg — in den
mannigfachen Auseinandersetzungen, die sie im Buch zu bestehen hat, bestätigt
sich bald das Gefühl, das man schon beim Lesen der »Familiengruft« bekommen
hat: Sie ist, auch nach ihrem Stehvermögen zu urteilen, eine echte Kelling, und
man fragt sich bald, ob es nicht letztlich angenehmer ist, vom Choleriker
Adolphus Kelling niedergeschrien zu werden, als von Sarah eine sanfte, aber
sehr bestimmte Zurechtweisung zu erhalten ...
    Einer der erwähnten Umbauten betrifft
den einstmals für gesellschaftliche Ereignisse unerläßlichen ›Salon‹, den
»drawing room‹ oder genauer »withdrawing room‹, in den sich je nach Ortsbrauch
einst nach gemeinsamem Dinner die Herren zum Rauchen oder die Damen zum
Klatschen zurückzogen. Er wird zum vornehmsten Raum der Pension mit eigenem
Bad. Großzügig dimensioniert und bequem im Erdgeschoß gelegen, wartet er auf
ältere wohlhabende Herrschaften, denen das Treppensteigen zuviel Mühe macht.
    Doch nur allzubald macht das neue
Apartment seinem alten Namen makabre Ehre: Die Bewohner dieses ehemaligen ›withdrawing
room‹, dieses ›Rückzugszimmers‹, entwickeln eine eigentümliche Neigung, sich
kurz nach ihrem Einzug zurückzuziehen — aus der Pension, aus Boston, aus der
Welt — kurz, aus dem Leben. Und wieder sieht sich Sarah in einer Welt voller
Geheimnisse und Doppelbödigkeiten ausgesetzt, wieder verwandelt sich das Haus,
wie in den letzten Tagen ihres Mannes und ihrer Schwiegermutter, in ein
Schreckenshaus.
    Zwar sind alle Mieter letztlich auf
Empfehlung irgendwelcher Familienmitglieder oder alter Bekannter von
untadeligem Ruf eingezogen — aber natürlich hat Sarah keine Nachforschungen
anstellen können. Und so ergibt sich beispielsweise bald, daß die Dame, auf die
sich eine Mieterin berufen hat, selbst seit zwei Jahren tot ist und von Sarahs
Pension nur im Jenseits erfahren haben kann, um ihre Empfehlung dann mittels
spiritistischer Praktiken zu vermitteln. Wenn Sarah genau nachdenkt — und Max
Bittersohn, der jüdische Kunsthistoriker und Experte für verschwundene
Kostbarkeiten seines Studienfachs, hilft ihr gern dabei — , kann sie keinem
ihrer Gäste trauen. So eng man beisammen lebt, so wenig weiß man voneinander.
Jeder im Haus kann die Pensionsexistenz zur Täuschung nutzen, zur Camouflage,
zum Aufbau einer Fassade, hinter der sich alles mögliche verbergen kann, bis
hin zu einem veritablen Doppelleben. Die Sonderlichkeiten, die die Mieter teils
outriert zur Schau tragen, könnten zu solcher Tarnung durchaus hilfreich sein:
Der krankhafte Querulant ist ebenso vertreten wie der manische Sammler, der nur
im versunkenen Königreich Hawaii lebt, der skurrile Gelehrte, der überwiegend
in Knurrlauten kommuniziert, ebenso wie der junge strebsame Viel- und
Besserwisser, der den Stoff für seine Konversation tatsächlich dem
gleichnamigen Lexikontyp zu verdanken scheint. Das Personal gleich mehrerer
Komödien ist hier vereinigt — die Empfehlungen der samt und sonders selbst
exzentrischen Kellings üben gleichsam eine Fernwirkung aus.
    Und diese Welt des Scheins, in der
keiner mehr keinem trauen kann, inszeniert niemand anders besser als die
Pensionschefin. Die Pension selbst stellt eine Scheinwelt dar: Zwar sind das
Haus, das Dienstmädchen und die Geldnöte Sarahs real genug, aber alles andere
ist Täuschung und Fassade. Der perfekte Butler ist deshalb so perfekt, weil er
ein Butlerdarsteller ist, ein
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