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Der Patient

Titel: Der Patient
Autoren: John Katzenbach
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aufzuarbeiten. Die Abschnitte zu finden, die wir ausklammern können. Er seufzte laut. Hatte er als Assistenzarzt vor über fünfundzwanzig Jahren einen Fehler gemacht, der ihn nunmehr einholte? Konnte er sich an jene ersten Patienten überhaupt erinnern? Während seiner Ausbildung als Psychoanalytiker war er an einer Studie mit paranoiden Schizophrenen beteiligt gewesen, die in die Psychiatrie des Bellevue Hospital eingewiesen worden waren. Bei der Studie war es darum gegangen, Faktoren zu bestimmen, die auf künftige Gewaltverbrechen schließen ließen, und sie war gescheitert. Doch er hatte einigeBehandlungspläne für Männer kennengelernt und mit erarbeitet, die weiterhin schwere Verbrechen begingen. Nie wieder war er in solche Nähe zur forensischen Psychiatrie gelangt, und es hatte ihm nicht sonderlich behagt. Als seine Arbeit an der Studie abgeschlossen war, hatte er sich augenblicklich wieder in die weitaus sicherere und physisch weniger strapaziöse Welt von Freud und Co. zurückgezogen.
    Ricky hatte plötzlich so großen Durst, als ob ihm die Kehle ausgetrocknet wäre.
    Ihm wurde bewusst, dass er von Kriminalistik und von Kriminellen praktisch keine Ahnung hatte. Das Gebiet hatte ihn einfach nie interessiert. Er bezweifelte, dass es unter seinen Bekannten überhaupt irgendeinen forensischen Psychiater gab. Bei den sehr wenigen Freundschaften und Bekanntschaften in Kollegenkreisen, die er regelmäßig pflegte, fand sich jedenfalls nicht einer.
    Er schielte zu den Lehrbüchern in seinen Regalen hinüber. Da stand Krafft-Ebing mit seiner richtungweisenden Arbeit über sexuelle Psychopathologie. Doch damit hörte es auch schon auf, und ungeachtet der pornografischen Botschaft, die er Rickys Großnichte untergejubelt hatte, hegte er eher Zweifel, dass Rumpelstilzchen ein sexueller Psychopath war.
    »Wer bist du?«, fragte er laut in den Raum hinein.
    Dann schüttelte er den Kopf.
    »Nein«, sagte er gedehnt. »Zuerst einmal:
Was
bist du?« Wenn ich das herausgefunden habe, sagte er sich, kann ich beantworten,
wer
du bist.
    Ich kann das, dachte Ricky, um sich selbst Mut zu machen. Morgen setze ich mich hin, zermartere mir das Hirn und erstelle eine Liste mit ehemaligen Patienten. Ich werde sie in Kategorien einteilen, die sämtliche Stadien meines Berufslebens repräsentieren. Dann werde ich mit den Nachforschungenbeginnen. Den Behandlungsfehlschlag entdecken, der mich mit diesem Kerl, diesem Rumpelstilzchen, in Verbindung bringt.
    Erschöpft und keineswegs sicher, dass er schon irgendwie weitergekommen war, stolperte Ricky aus seiner Praxis in sein kleines Schlafzimmer. Es war ein Raum von mönchischer Einfachheit, mit einem Nachttisch, einer Kommode, einem bescheidenen Kleiderschrank und einem Einzelbett. Früher einmal hatte hier ein Doppelbett mit einem reich verzierten Kopfende gestanden, hatten farbenprächtige Bilder die Wände geschmückt, doch nach dem Tod seiner Frau hatte er ihr Bett verschenkt und gegen etwas Einfacheres, Schmaleres getauscht. Auch der fröhliche Nippes und die anderen kunsthandwerklichen Gegenstände, die seine Frau gesammelt hatte, waren größtenteils verschwunden. Ihre Kleider hatte er Wohltätigkeitsorganisationen gespendet, ihren Schmuck und ihre persönlichen Habseligkeiten waren an die drei Nichten ihrer Schwester gegangen. Auf der Kommode hatte er ein Foto von ihnen beiden aufgestellt, das sie fünfzehn Jahre zuvor an einem klaren, azurblauen Sommermorgen im Garten ihres Bauernhauses in Wellfleet aufgenommen hatten. Seit ihrem Tod hatte er allerdings die meisten anderen sichtbaren Dinge, die an sie erinnerten, getilgt. Ein langsamer, qualvoller Tod, und dann drei Jahre lang das Verwischen sämtlicher Spuren.
    Ricky schlüpfte aus seinen Kleidern und nahm sich die Zeit, die Hose sorgsam zu falten und seinen blauen Blazer aufzuhängen. Das Anzughemd, das er trug, wanderte in den Wäschekorb. Die Krawatte ließ er auf die Kommode fallen. Dann plumpste er in Unterwäsche aufs Bett und wünschte sich mehr Energie. In der Nachttischschublade bewahrte er ein Gläschen mit selten gebrauchten Schlaftabletten auf. Auchwenn ihr Verfallsdatum reichlich überschritten war, würden sie ihren Zweck erfüllen. Er schluckte eine Pille und noch ein winziges Stück von einer zweiten und hoffte, dass sie ihn schnell in einen betäubenden Tiefschlaf versetzten.
    Einen Moment lang blieb er sitzen und strich mit der Hand über die raue Baumwolle des Bettbezugs, und ihm wurde bewusst, wie
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