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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain
Autoren: Courtney Miller Santo
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nächsten Moment kam Erin durch die Tür gerannt, Keller im Tuch vor ihrem Bauch. Durch die Hektik wachte der Kleine auf und begann zu weinen.
    »Alles in Ordnung. Alles in Ordnung«, sagte Elizabeth. Sie richtete sich auf und hielt sich mit der rechten Hand den linken Ellbogen. Der Schmerz war stechend, als würde man sie mit einem Stock piksen. Elizabeth begann, von hundert rückwärts zu zählen, ein Trick, um von den Schmerzen abzulenken. Sie hörte Erin sprechen, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren. Als sie schließlich bei null angekommen war, hatte Erin den Kleinen aus seinem Tuch genommen und begonnen, ihn zu stillen. Dabei las sie in einer Broschüre, die bei dem Sturz aus der Hutschachtel gefallen war. Es war ein Prospekt über das Flugprogramm von United Airlines, an dem Callie teilgenommen hatte.
    »Die hatten damals aber noch ein etwas anderes Frauenbild«, kommentierte Erin lakonisch. Sie las den Abschnitt aus dem Text vor, in dem die ideale Bewerberin beschrieben wurde: in guter körperliche Verfassung, Taillenumfang höchstens fünfzig Zentimeter, Brustumfang mindestens neunzig Zentimeter. »Die haben wohl Barbie gesucht.«
    Elizabeth hielt ihren Arm nach vorne und streckte ihn. Der Schmerz hatte endlich nachgelassen. »Callie wollte einfach nur fliegen. Seit sie fünf Jahre alt war, war sie überzeugt, dass die Welt mehr zu bieten hatte als Kidron.«
    »Und die große weite Welt, hat sie sie zufrieden gemacht? Ist sie deshalb zurückgekommen?«
    Elizabeth lächelte. Ihre Tochter war nie zufrieden gewesen. »Nein. Sie kam zurück, um gesund zu werden, und als sie wiederhergestellt war, hatte sie Kinder und einen Laden, den sie führen musste.«
    »Es ist nicht mehr das Gleiche ohne sie. Sie fehlt mir. Und Mum fehlt mir auch.« Erin sah Elizabeth kurz an, dann schaute sie schnell wieder weg.
    »Hast du etwas von ihr gehört?«
    »Sie ist in Florida«, sagte Erin leise.
    »Dort hätte ich sie niemals vermutet. Ich hatte sie ins Kaskadengebirge geschickt«, erwiderte Elizabeth. Sie wollte noch mehr sagen, doch die vielen Geheimnisse, die sie nun fast ihr gesamtes Leben mit sich herumtrug, hatten sie gelehrt, bedächtig vorzugehen. Erin setzte sich auf die Bettkante. Keller hob den Kopf, und sie legte ihn an die andere Brust an. »Ich habe das Gefühl, als wären wir alle aus dem Gleichgewicht geraten.«
    »Wir sind seit so langer Zeit in Kidron«, sagte Elizabeth. »Es ist ganz normal, dass wir nach und nach wieder fortgehen.«
    »Das hat Mum auch gesagt. Sie will, dass ich zurück nach Europa gehe, dass ich versuche, irgendeine Regelung mit Kellers Vater zu finden. Sie sagt, es sei nicht normal, von einem Elternteil getrennt zu sein.«
    »Das hängt ganz von dem Elternteil ab.« Elizabeth legte sich aufs Bett.
    »Sie hat einen Job. Putzt in einer Frühstückspension an der Küste.« Erin legte sich nun ebenfalls hin und rollte sich auf die Seite, sodass sie Elizabeth in die Augen sehen konnte. »Glaubst du, sie kriegen sie?«
    »Nie im Leben«, antwortete Elizabeth. »Nie im Leben.«
    »Ich glaube, sie fehlt ganz Kidron«, sagte Erin.
    Sie schwiegen, bis Keller fertig getrunken hatte. Anschließend hielt Erin Elizabeth den Jungen entgegen. »Pass einfach nur auf, dass er nicht wieder spuckt. Bestimmt kennst du ein paar Tricks, nach all den Jungs, die du großgezogen hast.«
    Elizabeth legte den Jungen mit dem Gesicht nach unten auf ihren Schoß, sodass sein Kopf ein kleines Stück über ihren Knien lag, und begann, ihm den Rücken zu reiben. Er stieß einen lauten Rülpser aus, und sie lachten. »Er ist so blutjung.«
    Erin nickte. »Bevor es ihn gab, konnte ich mir einfach nicht vorstellen, wie schnell wir an unsere körperlichen Grenzen kommen.«
    »Du hast zu viele Jahre bei uns verbracht«, sagte Elizabeth. »Wir waren schon alt und verbraucht, als du zu uns kamst.«
    »Das mag vielleicht auf andere Großmütter zutreffen, aber in euren Adern fließt Annas Blut. Ich bin davon überzeugt, dass ihr ewig leben werdet.«
    Erin klang unbeschwert, und während Elizabeth sie betrachtete, wurde ihr klar, wie sicher sich das Mädchen fühlte. »Niemand will ewig leben«, sagte sie und hob das Kind von ihren Knien, um es sich auf die Brust zu legen.
    Als sie jünger war, hatte sich ihr immer die Brust zusammen gezogen, sobald sie ein Kind auf den Arm nahm – sei es ihr eigenes oder ein fremdes. Es war ein Phantom-Druck gewesen, als würde ihr Körper sich erinnern. Jetzt spürte sie nichts mehr. Ihre
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