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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur
Autoren: Edgar Hilsenrath
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Goethestraße bleiben, ich nehme an, wegen des »Erlkönigs«, obwohl ich nicht sicher bin, ob er Goethes Gedicht kannte; vielleicht hatte der Fleischer mal was vom tollen Ritt durch den nächtlichen Wald gehört oder vom Vater und Sohn oder von einem temperamentvollen Pferd, und vielleicht hatte ihn das beeindruckt... der Hausdiener jedoch, der liebte die »Glocke«, da bin ich ganz sicher, der zitierte sogar zuweilen aus Schillers großem Gedicht: »Mensch, Minna, ich krieg' das Klavier nicht vom Fleck, das ist wie ›festgemauert‹« ... und der, der wollte unbedingt, daß wir auf der Schillerstraße blieben. Meinen anderen drei Vätern war das egal. Der Schlossermeister meinte, daß die Schlösser in der Goethestraße nicht besser seien als die in der Schillerstraße, der Maurergehilfe nickte mit dem Kopf und sagte: »Ja, die Häuser in der Schillerstraße sind genauso verwanzt wie die in der Goethestraße.« Und Wilhelm Hopfenstange, der Kutscher, stellte fest, daß die Pflastersteine beider Straßen holprig wären und voller Glassplitter und sonstigem Zeug. Schließlich traf meine Mutter die letzte und endgültige Entscheidung. Sie sagte: »Wir überqueren erst mal die Straße!«
    Kennen Sie die deutsche Stadt Wieshalle? Die Straßen sind krumm und schmal, so schmal, daß man von der anderen Straßenseite nicht nur alles sehen, son dern auch alles hören konnte, was vor dem Friseursalon ›Der Herr von Welt‹ geredet wurde.
    Dort stand Anton Slavitzki ... Anton Slavitzki, der Kinderschänder ... und blickte grinsend zu unserer Gruppe herüber. Anton Slavitzki war von Beruf Friseur, genauso wie Chaim Finkelstein, bloß kein so guter. Sein Friseurladen ... kein Friseursalon, so vornehm war der nicht ... lag dem Friseursalon ›Der Herr von Welt‹ gegenüber, auf eine Art und Weise, daß sich beide Friseure ... der Finkelstein und der Slavitzki ...
    durchs Schaufenster angucken konnten ... und das taten sie oft, Finkelstein, lächelnd und gönnerhaft, Slavitzki dagegen gehässig und neidisch.
    Slavitzki? Ein langer, dürrer Kerl war das, mit buschigen Augenbrauen, Säuferaugen, die ein bißchen schielten, öligem Haar, knochiger Nase und einem Schwanz so lang, daß er ihm, laut Gerüchten, bis übers Knie hing ... und das, so sagten die Leute, wäre auch der Grund, warum Slavitzki denselben stets mit einem Gummiband am Schenkel festgeschnürt hätte.
    Wir überquerten die Straße. Als wir an Slavitzkis Friseurladen vorbeimarschierten ... meine fünf Väter, keu chend unter der Last des Gepäcks, meine Mutter, ein auf zwei dünnen Stelzen schwebendes Bierfaß, mich auf dem Arm, nicht mehr heulend, schon beruhigt und ge rade im Begriffe wieder einzuschlafen ... also: als wir so ahnungslos an Slavitzki vorbeimarschierten, da machte der Kinderschänder plötzlich einen Schritt vorwärts und kniff meine Mutter in den dicken Hintern.
    Meine Mutter blieb empört stehen. Sie sagte: »Was fällt Ihnen ein, Herr Slavitzki! Ich bin eine anständige Frau!« Slavitzki fing zu stottern an. Ja, so war das. Er stotterte ... irgendeine dumme Entschuldigung ... und meiner Mutter gefiel das, und sie sagte: »Na ja, macht nichts. Mein Hintern hat schon so manchen Mann aus dem Häuschen gebracht. Was gefällt Ihnen eigentlich an mir?«
    Und Slavitzki sagte: »Ihr Hintern.«
    Meine Mutter sagte: »Also doch!«
    Slavitzki sagte: »Gnädige Frau, wenn Sie sich mal modisch frisieren wollen, dann mache ich das gratis, obwohl ich eigentlich kein Damenfriseur bin.«
    Und meine Mutter fragte: »Der letzte Modeschrei?«
    »Der letzte Modeschrei«, sagte Slavitzki.
    »Ich nehme Sie beim Wort«, sagte meine Mutter.
    »Wann wollen Sie mich frisieren? Ich meine gratis?«
    »Wenn Sie wollen, dann mach ich's gleich«, sagte Slavitzki .
    »Na gut«, sagte meine Mutter. »Weil aufgeschoben, aufgehoben ist. Dann lieber gleich.«
    Meine Mutter verschwand mit mir in Slavitzkis Friseurladen. Meine fünf Väter warteten geduldig vor der Tür, aber als zwei Stunden vergangen waren, da sagte der Fleischer zu meinen anderen Vätern: »Die Minna kommt nicht mehr raus. Kein Wunder. Der hat den längsten Schwanz in der Goethestraße.« Und der Hausdiener sagte: »Einschließlich Schillerstraße.« Und der Schlossermeister sagte: »Den längsten und stärksten. Das ist bekannt. Der ist ein Meisterficker.« Und der Maurergehilfe sagte: »Ja. Das stimmt. Aber der ist doch ein Pole. Und das ist verdächtig.« Und der Kutscher Wilhelm Hopfenstange nickte und
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