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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Autoren: Rick Yancey
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großgezogen.
    »Ich heiße Muriel«, sagte sie.
    »Ich bin William James Henry«, antwortete ich mit unbeholfener Förmlichkeit.
    »Henry! Das bist du also! Das hätte ich mir denken können. Du bist James Henrys Sohn.« Sie legte ihre kühle Hand auf meinen Arm. »Dein Verlust tut mir schrecklich leid, Will. »Bist du hier, weil …?«
    »Der Doktor hat mich bei sich aufgenommen.«
    »Tatsächlich? Wie außerordentlich uncharakteristisch für ihn. Bist du sicher, dass wir von demselben Doktor sprechen?«
    Hinter mir wurde die Studierzimmertür geöffnet, und ich hörte den Monstrumologen sagen: »Will Henry. Wer war –« Ich drehte mich um, um einen Ausdruck tiefer Erschütterung in seinem Gesicht zu entdecken, auch wenn dieser schnell durch eine Maske eisiger Gleichgültigkeit ersetzt wurde.
    »Pellinore«, sagte Muriel Chanler leise.
    Der Doktor sprach mit mir, wenngleich seine Augen sie nicht verließen.
    »Will Henry, ich dachte, meine Anweisungen seien eindeutig!«
    »Du darfst William nicht die Schuld geben«, sagte sie in verspieltem Ton. »Er bekam Mitleid mit mir, als ich wie eine nasse Katze auf deiner Veranda stand. Bist du krank?«, fragte sie plötzlich. »Du siehst aus, als hättest du Fieber.«
    »Es ging mir nie besser«, erwiderte der Doktor. »Ich kann mich nicht beklagen.«
    »Das ist mehr – oder weniger –, als ich von mir behaupten kann. Ich bin nass bis auf die Haut! Meinst du, ich könnte einen Becher heißen Cidre oder Tee haben, bevor du mich zur Tür hinauswirfst? Ich bin einen sehr weiten Weg gekommen, um dich zu sehen.«
    »So weit ist New York nicht«, entgegnete Warthrop. »Es sei denn, du bist zu Fuß gekommen.«
    »Heißt das dann nein?«, fragte sie.
    »Nein zu sagen wäre dumm von mir, oder? Niemand sagt Nein zu Muriel Barnes.«
    »Chanler«, korrigierte sie ihn.
    »Natürlich. Danke. Ich glaube, ich erinnere mich daran, wer du bist. Will Henry, führe Mrs. Chanler« – er spie den Namen aus – »ins Empfangszimmer und setze eine Kanne Tee auf. Es tut mir leid, Mrs. Chanler , aber Cidre haben wir keinen. Er ist gerade nicht auf dem Markt zu haben.«

Als ich ein paar Minuten später mit dem Serviertablett aus der Küche zurückkam, blieb ich vor dem Empfangszimmer stehen, denn ich konnte hören, dass drinnen eine hitzige Diskussion im Gange war, des Doktors Stimme hoch und angespannt, die unseres Gastes ruhiger, aber nicht weniger eindringlich.
    »Selbst wenn ich es für bare Münze nähme«, sagte er gerade, »selbst wenn ich solchem Gewäsch Glauben schenkte … nein, selbst wenn es ungeachtet meines Glaubens existierte … es gibt ein Dutzend Männer, an die du dich um Hilfe wenden könntest.«
    »Das mag sein«, räumte sie ein. »Aber es gibt nur einen Pellinore Warthrop.«
    »Schmeichelei? Ich bin verblüfft, Muriel!«
    »Ein Gradmesser meiner Verzweiflung, Pellinore. Glaub mir, wenn ich dächte, jemand anders könnte mir helfen, würde ich dich nicht fragen.«
    »Ganz die Diplomatin.«
    »Ganz die Realistin – anders als du.«
    »Ich bin Wissenschaftler und folglich ein absoluter Realist.«
    »Ich verstehe ja, dass du verbittert –«
    »Anzunehmen, ich wäre verbittert, beweist dein mangelndes Verständnis. Diese Annahme geht davon aus, dass ich ein Residuum an Zuneigung in mir beherberge, was, wie ich dir versichere, nicht der Fall ist.«
    »Kannst du nicht einmal vergessen, wer um Hilfe bittet, und an den Menschen denken, der sie braucht? Du hast ihn einmal geliebt.«
    »Wen ich geliebt habe, geht dich nichts an.«
    »Stimmt. Mich geht es etwas an, wen ich liebe.«
    »Warum gehst du ihn dann nicht selbst suchen? Warum bist du den ganzen Weg hierhergekommen, um mich damit zu belästigen?«
    Weil ich mich in meiner Begierde zu lauschen zu weit vorgebeugt hatte, verlor ich das Gleichgewicht und hätte um ein Haar das Tablett fallen lassen, als ich wie ein Säufer durch die Türöffnung wankte, während der Tee aus dem Kannenschnabel schwappte und die Tassen auf den Tellern klirrten. Ich stellte fest, dass der Doktor am Kamin stand. Muriel saß steif im Sessel ein paar Schritt weg von ihm und hielt mit einer Hand krampfhaft ein Stück Schreibpapier fest.
    Der Doktor tat mir durch ein Zungenschnalzen seine Missbilligung kund, dann trat er vor und riss ihr den Brief aus der Hand. Ich stellte das Tablett auf den Tisch neben ihr.
    »Ihr Tee, Mrs. Chanler«, sagte ich.
    »Danke, Will«, sagte sie.
    »Ja, lass uns allein«, sagte der Doktor, der die Nase in den Brief
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