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Der Mann im Schatten - Thriller

Der Mann im Schatten - Thriller

Titel: Der Mann im Schatten - Thriller
Autoren: Heyne
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Strafgericht war erst vor kurzem eingeweiht worden, und im Zuge des Neubaus hatte man auch die Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Es spielte keine Rolle mehr, ob man eine Anwaltslizenz besaß, sie schickten einen unweigerlich durch den Metalldetektor und inspizierten sämtliche mitgebrachten Taschen. Mir sollte es recht sein, schließlich hatte ich keine Eile. Ich war noch nicht bereit, mich auf das zu konzentrieren, was Sammy mir erzählen würde. Ich musste die ganze Zeit an Emily denken. An ihre ersten tapsigen Versuche, meine Nase zu packen, obwohl ihr kleines schrumpliges Händchen noch gar keine Faust bilden konnte. An ihren Babygeruch, den kleinen warmen Körper auf meinen Unterarmen, die großen, erstaunten, unschuldigen Augen.

    Ich trank unsinnig viel am Wasserspender, benutzte die Toilette, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete mich selbst im Spiegel. Nach dem Lunch war ich immer übler Laune. Trotzdem behielt ich diese Mittagstermine bei, auch wenn sie mich zutiefst deprimierten, mit stetig wachsendem Widerwillen erfüllten und ich mich fragte, ob es wohl jemals besser würde, und wenn ja, wodurch.
    Das Einzige, was ich definitiv wusste, war, dass ich mich wie ein Wrack fühlte, und immer noch in einem Sumpf aus Selbstmitleid, Zynismus und Resignation steckte. Auf dem Papier war ich Anwalt, aber Sammy Cutler würde ich wohl keine große Hilfe sein.
    Sammy. Eine Reihe von Schnappschüssen blitzte auf: ein magerer kleiner Junge mit abstehenden Ohren und wirrem Haar, der unter der Fontäne eines Feuerhydranten herumspringt. Ein Zehnjähriger mit militärischem Kurzhaarschnitt und ernstem Gesicht. Ein Teenager, hart gegen sich selbst und andere, der seine Probleme mit den Fäusten löst. Momentaufnahmen aus einzelnen Lebensphasen Sammys, die sich stärker voneinander unterschieden, als mir damals bewusst war.
    Ich bemerkte ihn erst, als er sich in Begleitung eines Aufsehers der Tür näherte. Unsere Blicke begegneten sich, und nach einem Moment der Befremdung musterten wir uns mit der milden Überraschung, die sich vermutlich nie ganz vermeiden lässt, wenn man sich Jahrzehnte nicht begegnet ist - egal, wie sehr man versucht, das zunehmende Alter und diverse harte Schicksalsschläge mit einzuberechnen. Ich hatte mich um ein altersgemäßes Bild bemüht, lag aber weit daneben. Er entsprach ganz und gar nicht meinen Erwartetungen. Tatsächlich wirkte er auf mich viel eher wie die all die anderen Mandanten, die ich in den letzten sechs Wochen verteidigt hatte.

    Sammy war speckig um die Hüften, hatte muskulöse Arme, eine fleckige Gesichtshaut, und sein Haar war zu einer öligen Tolle zurückgekämmt. Seine Nase war mehrfach gebrochen, und um die Nasenlöcher herum war die Haut trocken und verkrustet. Seine Augen bildeten das einzige Lebenszeichen in seinem Gesicht. Groß und blau hingen sie an mir, mit der verzweifelten Hoffnung, die ich von vielen Mandanten kannte.
    So viele Erinnerungen waren so schnell zurückgekehrt, aber ihn hier in Ketten zu sehen, beschwor zwingend ein ganz bestimmtes Bild herauf: Sammy im Alter von sechzehn, in Handschellen, mit gesenktem Kopf in einem Verhörraum der Polizei.
    Besser ich als du, hatte er mir zugeraunt.
    »Das ist nicht nötig«, erklärte ich dem Wärter. Er hatte Sammy veranlasst, sich auf einen Stuhl zu setzen, um seine Handschellen an einen Stahlbügel am Tisch zu ketten. Ungeachtet meiner Bitte schloss ihn der Wärter an und überließ dann Anwalt und Mandant ihrem Schicksal.
    Sammy lächelte nervös, fast entschuldigend. Vermutlich traf es ihn ziemlich hart, bei unserem Wiedersehen in Gefängniskluft zu stecken. Mit mühsamen Verrenkungen, die sich den Handschellen verdankten, fischte er ein Zigarettenpäckchen aus seiner Tasche und zündete sich eine an.
    Wir waren elf, als wir damit anfingen. Klauten Zigaretten von seiner Mutter, rannten damit in den Park, versuchten verzweifelt, die verdammten Dinger anzuzünden, indem wir Streichhölzer an einem Stein rieben, und husteten schließlich furchtbar, als uns der Rauch in Kehle und Lunge brannte. Sammy hatte nie wieder damit aufgehört. Und ich auch nicht, bis Trainer Fox eines Tages auffiel, dass ich ein flinker Bursche war, der einen Football fangen konnte.

    »Jason«, begann Sammy.
    Selbst diese einfache Begrüßung klang auf schmerzhafte Weise falsch. Ich konnte mich nicht erinnern, dass Sammy mich je bei meinem Vornamen genannt hatte. Nie hätte er früher Jason zu mir gesagt. Für ihn war
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