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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger
Autoren: Nora Luttmer
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Bruchteil einer Sekunde schien alles um ihn herum stehen zu bleiben. Als er begriff, was passiert war, rannte er los.
    Tu war auf den Boden zwischen den Gleisen gesunken, eine Hand auf der Seite seines Bauches. Das T-Shirt rot von Blut. Er zitterte am ganzen Leib. Ly kniete sich neben ihn, berührte ihn an der Schulter.
    Zwei der uniformierten Polizisten hetzten Doktor Song hinterher. Ihre schweren Schuhe donnerten über den Boden. Wieder fielen Schüsse, einer musste Doktor Song getroffen haben. Er rannte noch immer, zog aber sein Bein hinter sich her und wurde langsamer.
    Kurz darauf zogen die beiden Männer von der Einsatztruppe Doktor Song zu Ly und Tu herüber. »Helfen Sie ihm. Sie sind Arzt. Los!«, brüllte einer der Männer. Doch Doktor Song fixierte nur Ly mit stechenden wütendenAugen. Ly sprang auf und riss Doktor Song aus der Umklammerung der Uniformierten. »Hilf ihm!«, schrie er.
    Doktor Song lachte. Es war dasselbe Lachen, das Ly schon einmal von ihm gehört hatte. Aus seinem Versteck unter der Treppe vor der Wohnung der Baronin. Wieder lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Er drückte den Arzt zu Boden. »Mach schon!«, schrie er.
    Doch Doktor Song lachte nur immer weiter. Unbändiger Zorn packte Ly. Er atmete tief durch, doch es half nichts. Er holte aus und schlug Doktor Song gegen die Schläfe, die Hand fest zur Faust gepresst. Er holte erneut aus und traf das Kinn. Als er sich wieder zu Tu hinunterbeugte, war Tu tot.
    Langsam versammelten sich die ersten Schaulustigen. Die Leute sahen schweigend zu ihnen herüber. Ly zog sich eine Thang Long aus der Packung und setzte sich auf ein Gleis. Diesmal beruhigte ihn der Rauch in den Lungen nicht. Als sein Telefon klingelte, wagte er kaum ranzugehen. Es war Lan.
    »Hallo«, sagte Ly leise. »Wir haben sie!« Lan schrie in den Hörer. Sie klang euphorisch. Lys Magen zog sich zusammen. Wie zum Himmel sollte er ihr sagen, was mit Tu passiert war?
    »Du hättest dabei sein sollen«, rief sie und ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Ausnahmsweise war er einmal froh darum. »Die haben von dieser Spezialeinheit fünfzig Mann mitgeschickt. Es war dunkel, als wir nach Na Cai rein sind. Ich hatte ein ideales Versteck auf einem Hügel oberhalb der Villa der Baronin. Ich konnte alles beobachten.« Die Männer in ihren schwarzen Kampfanzügenhätten das Haus der Baronin umzingelt. Als sie alle mit ihren Waffen im Anschlag in Position waren, blendeten transportable Scheinwerfer auf und leuchteten das gesamte Gelände aus. Es habe gespenstisch ausgesehen, das Haus und all die Bäume in dem grellen weißen Licht. Per Megaphon hätten sie der Baronin befohlen, mit erhobenen Händen aus dem Haus zu treten.
    »Sie hat gar nicht erst versucht zu fliehen«, sagte Lan. »Es war überhaupt kein Problem, sie festzunehmen.«
    Natürlich nicht, dachte Ly. Hätten sie nur ihm die Männer der Spezialeinheit zugeteilt. Männer, die zumindest annähernd wussten, was sie taten. Ly spürte, wie sich der Kloß in seinem Magen weiter zusammenzog. Jetzt, dachte er, jetzt sag es ihr. Aber ihm fehlte der Mut.
    »Und dieser Dorfpolizist.« Lan lachte. »Er war bei der Baronin im Haus. Du glaubst nicht, wie der gerannt ist. Er wusste ja nicht, dass wir nur die Baronin holen wollten. Er ist an ihr vorbei zu seinem Wagen gestürzt …«
    Ly hörte ihren Ausführungen nicht mehr zu. Er dachte nur daran, was er ihr gleich sagen musste. Er schloss die Augen.
    »Ly?«, fragte Lan schließlich. »Wie ist es denn bei euch gelaufen?«
    *
    Die Ware, die sie in dem Lieferwagen gefunden hatten, bewies Doktor Songs Verwicklung in den Tierhandel: Bärentatzen, getrocknete Gallenblasen, lebende Gibbons, Languren, Schuppentiere, Binturongs, ein Bärenjunges. Und einen toten Tiger.
    Jacky, die sie im Quan Ruou No. 1 hatten festnehmenkönnen, brach sofort zusammen. Von Mord wollte sie nichts gewusst haben, aber sie erklärte, Doktor Song sei der Kopf des Tierhändler-Ringes gewesen. Auch gegen die Baronin sagte sie aus. Sie schien fast erleichtert, ihre Informationen loszuwerden. Sie wies es zwar weit von sich, aber Ly war sicher, dass sie Angst um ihr Leben gehabt hatte. Sie musste erkannt haben, dass andere, die ähnlich viel wie sie gewusst hatten, umgebracht worden waren. Und wäre sie nicht – wie sich beim Verhör herausstellte – eine Großcousine von Doktor Song gewesen, wäre sie vielleicht auch längst tot.
    Innerhalb von nur einer Woche wurde die Anklage erhoben und die Hauptverhandlung
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