Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Code - ein Roman über die Geschichte der Zivilisation

Der letzte Code - ein Roman über die Geschichte der Zivilisation

Titel: Der letzte Code - ein Roman über die Geschichte der Zivilisation
Autoren: Gerd Schneider
Vom Netzwerk:
schienen sie jetzt sicher zu sein, dass sie es hier nicht mit einem Feind zu tun hatten. Tamas sah sich vorsichtig um. Im vorderen Teil der Höhle, der von einigen Fackeln erhellt wurde, waren aus Astwerk einige Bereiche abgetrennt. Darin gab es Liegestätten aus aufeinandergelegten Fellen.
    „Emd! Sseept!“
    Eine Frau, die Essen aus dem Kessel über dem Feuer schöpfte, gab Tamas eine Art Holzteller, gefüllt mit Blättern, Fleischstücken und wurzelähnlichen Knollen. Tamas nahm es mit einem dankbaren Lächeln an. Alle bedienten sich aus dem Kessel und begannen, gierig zu essen. Mit kräftigen Kieferbewegungen wurde das Fleisch zerrissen. Tamas musste an Wölfe denken. Für einen Augenblick kam die Angst zurück.
    Ich kann jederzeit raus, beruhigte er sich.
    Die Frau, deren Gesicht feiner geschnitten war als das der Männer mit den knochigen Wülsten über den Augen, lächelte ihn an.
    Schickt uns das Wild zurück!
    Die Menschen saßen lange am Feuer. Ihre Mienen wurden immer sorgenvoller. Tamas wurde kaum noch beachtet. Er verstand aus ihren Gesten und Lauten, dass es eine große Hungersnot gegeben hatte. Ein Mann hatte die Fähigkeit, die Laute der Tiere nachzumachen und durch sein Spiel zu zeigen, dass sich in diesem Tal nicht genügend jagdbares Wild gezeigt hatte. Mehrere Leute sprangen auf und machten beschwörende Gesten zum Himmel und zum Fluss hinunter, als wollten sie die Mammuts und Wollnashörner damit herbeibeschwören. Tamas verstand die Laute immer besser, formte sie sich zu Worten, las aus ihren Gesichtern, was geschehen war. Viele hatten nicht überlebt, denn die Vorräte an getrocknetem Fleisch waren bald aufgebraucht. Zu allem Unglück hatte ein Höhlenbär eine Vorratskammer geplündert, als sie auf der Jagd waren. Nun ernährten sie sich schon eine ganze Weile von Enten, Hasen und Kaninchen.
    „Oh, ihr Götter“, verstand Tamas ihren gemeinsamen Gesang, „seid gnädig und schickt uns das Wild zurück, sonst sind wir alle des Todes!“
    Kleine Sonne, süßer Mond
    Er lag auf seinen Pelzdecken in einer durch Felle abgetrennten Ecke. Um sich herum hörte er Atmen, Räuspern, Husten, Stöhnen, Flüstern, Weinen, Summen, Singen.
    Ein zarter Gesang, leise vorgetragen, ein Kinderlied:
    „Kleine Sonne,
    süßer Mond,
    guter Stern,
    schlaf, schlaf.“
    Er war gerührt, ein warmes Gefühl durchströmte ihn. Am liebsten würde er zu der Sängerin mit der schönen zarten Stimme hingehen. Vielleicht hat sie nur lalala lila gesungen und er den Text erfunden?
    Doch diese zarte, schwingende Melodie des Schlafliedes würde sich auch in 50 000 Jahren nicht ändern. So ist die Sprache entstanden, dachte er, aus den Schreien wurden Worte, aus den Lauten der Angst und der Freude, des Triumphes und des Schmerzes wurden Konsonanten und Vokale, wurden Silben. Aus der Lalalalila -Sprache wurden Worte, die sich zu Sätzen zusammensetzten. Aus den gesummten, lautmalerischen Gesängen der Mütter wurden die kleine Sonne und der süße Mond , der die Angst in der dunklen kalten Höhlennacht bannte.
    Als ein Kind wieder anfing zu weinen, setzte der Gesang wieder ein.

    „Kleiner Bär,
    nach Hause,
    großer Bär,
    nach Hause.
    Nicht weinen,
    nicht weinen,
    nicht weh,
    kein Ach,
    la-li-lei-lo!”
    Dann spielte eine Flöte wiederholt in einer Schleife auf- und absteigend die Melodie, beruhigend, Trost spendend. Der Ton so zart, zerbrechlich wie der dünne Knochen, aus dem sie geschnitzt war.
    Tamas konnte der Versuchung nicht widerstehen und schob das Fell ein wenig zur Seite. Durch den Spalt beobachtete er die Frau, die an einer kleinen Liegestatt saß. Das Weinen hatte aufgehört. Zwei Kinder hoben die Köpfe aus den Felldecken. Sie formten die Laute nach, zuerst stumm, mit einem Lachen auf dem Gesicht. Dann summten, sangen sie mit: „Lalala lila lila-lalala.“
    Summten, sangen mit, konnten gar nicht genug kriegen und forderten mit heftigen Gesten dazu auf, immer weiterzumachen, bis alle bösen Geister und Gespenster aus dem Höhlendunkel verschwunden waren.
    Tamas sah den Rücken der Frau, flackernd erleuchtet vom Schein des Feuers am Eingang der Höhle. Ihr Haar schien heller als das der anderen Frauen. Sie deckte die Kinder zu, wandte sich zum Gehen. Tamas konnte sich gerade noch zurückziehen. Er war nicht sicher, ob sie ihn gesehen hatte.
    Wer war sie?
    In Erwartung von Jagdbeute
    Als er am Morgen vor die Höhle trat, war die Kinderhüterin mit ihren Schützlingen nirgends zu sehen. Der Tag war kalt, über
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher