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Der leiseste Verdacht

Der leiseste Verdacht

Titel: Der leiseste Verdacht
Autoren: Helena Brink
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Feste zu überstehen. Er hob die Wichtigkeit hervor, sich ordentlich einen hinter die Binde zu kippen, um den Ekel vor solchen Veranstaltungen zu überwinden und zu verhindern, dass man das ganze Affentheater durchschaut. Er quasselte in einer Tour, während er ihr noch mehr zu trinken gab, und sparte nicht mit zweideutigen Komplimenten. Dass er es auf sie abgesehen hatte, war offensichtlich, doch besaß er so viel Charme und Humor, dass sie ihre Einsamkeit vergaß und sich in seiner Gesellschaft wohl fühlte. Sie war von seinen Augen fasziniert und bemerkte zu ihrer Verwunderung, dass sein Bart ganz weich war, wenn sie mit ihm in Berührung kam. Schließlich fing auch sie zu erzählen an, und je mehr sie trank, desto nüchterner kam er ihr vor. Ihre Erinnerungen an den weiteren Verlauf des Festes waren allerdings ziemlich vage. Sie meinte sich entsinnen zu können, dass sie auf der taufeuchten Wiese zu tanzen versucht und viel gelacht hatten. Schwer zu sagen, wie alles geendet hätte, wäre nicht Jan plötzlich in ihr schwankendes Blickfeld getreten und hätte sie aufgefordert, sich ihm anzuschließen.
    Ein gutes Jahr war darauf vergangen. Die Zweifel an ihrer Beziehung hatten sich in Gewissheit verwandelt, was dazu führte, dass ihre Wege sich trennten. Katharina wohnte zu dieser Zeit mit ihrer Freundin Sara zusammen. Gemeinsam studierten sie Literaturwissenschaft an der Universität in Stockholm, träumten von der großen Liebe und einer beruflichen Zukunft im literarischen Milieu. Und während sie auf die Erfüllung ihrer Wünsche warteten, schneiderten sie sich haufenweise neue Kleider und verpassten den Wänden ihrer Wohnung ständig neue Farben. Es war eine herrliche Zeit.
    Sara hatte eine drei Jahre ältere Schwester namens Siri, die oft bei ihnen vorbeischaute, vor allem, um ihr kompliziertes Liebesleben zu erörtern. Sie hatte eine aufreibende Beziehung mit einem Künstler, den sie beharrlich in den düstersten Farben 30
    schilderte, als hoffnungslos egozentrisches und untreues Exemplar beschrieb. Dennoch konnte sie nicht von ihm lassen.
    Mitte August, kurz vor Semesterbeginn, hatten Sara und Katharina kurz nacheinander Geburtstag und entschlossen sich, eine gemeinsame Party zu organisieren. Unter den ungefähr fünfzehn Gästen befanden sich auch Siri und ihr berüchtigter Künstler. Es handelte sich um Patrik. Katharina freute sich aufrichtig, ihre Sommerbekanntschaft wiederzusehen, sah sich jedoch mit einem fragenden Blick und einem höflich reservierten Lächeln konfrontiert. Es war ein peinlicher Moment und Katharina von so viel Oberflächlichkeit tief gekränkt. Aber es kam alles noch schlimmer. Während des relativ trockenen Abends – die literaturbeflissenen Freundinnen konnten ihre Gäste nur mit überschaubaren Mengen Rotwein bewirten –
    verliebte sie sich unsterblich in den unzuverlässigen Kerl. Sie verfluchte sich im Stillen, versuchte sich sogar einzureden, dass ihre Gefühle sie zum Narren hielten, doch wusste sie nur zu gut, was sie so anzog. Sie spürte, dass sich hinter den schweren Lidern ein erfahrener und abenteuerlustiger Mensch mit einem unstillbaren Lebenshunger verbarg. An seiner Egozentrik bestand indes kein Zweifel. Er besaß eine natürliche Neigung, bei größeren Gesellschaften im Mittelpunkt zu stehen, ohne deswegen weniger liebenswert zu erscheinen. An Kreativität und Vitalität konnte es niemand mit ihm aufnehmen.
    Für unzuverlässig oder treulos hielt sie ihn nicht, die scheinbare Rücksichtslosigkeit schien seiner Naivität zu entspringen. Er wollte niemandem etwas Böses, überfuhr die Menschen nur manchmal mit seiner ungestümen Intensität. Im Grunde war er auch keine rätselhafte Persönlichkeit; sein Wesen lag offen zutage. Seine Gesichtszüge waren ausgeprägt maskulin und ein wenig hochmütig, was jedoch von seinem sinnlichen Mund und den sonderbar hellen Augen gemildert wurde. Wenn es etwas Rätselhaftes an ihm gab, dann waren es seine fast türkisfarbenen Augen, die von erstaunlicher Tiefe waren und 31
    jederzeit ihren Ausdruck verändern konnten. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihnen. Sein Kopf war schön geformt, sein Haarwuchs üppig, und wie sich sein dichter Vollbart anfühlte, daran konnte sie sich noch ganz genau erinnern. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn mit den Augen verschlang, und hatte Siri gegenüber ein schlechtes Gewissen, als sie sich den Geschmack seiner vollen Lippen vorstellte. In gewisser Hinsicht war es ein quälender Abend
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