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Der Kuss des Greifen

Der Kuss des Greifen

Titel: Der Kuss des Greifen
Autoren: Sharon Morgan
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konnten weder die Hellenin noch Aiolos nachvollziehen. Es kam einem Fluch gleich, Geister sehen zu können. Dies war eine unerwünschte Gabe, die ihn seit frühester Kindheit begleitete.
    Um Sirona zu retten, würde er den Friedhof dennoch betreten. Celtillos umfasste die Stiele der beiden Spaten fester. Er hoffte nur, dass Aiolos kein Betrüger war und er sich dies hier nicht unnötig antat, sonst würde er den Seher eigenhändig in einem der Gräber versenken.
    Der von Zypressen umgebene Friedhof lag außerhalb der Stadt. Es war hier merklich dunkler als auf der Straße. Nebel zog auf und wogte in langen Schlieren um die Gräber. Aiolos’ Öllampe spendete nur spärliches Licht. Zudem flackerte die Flamme im Wind, der drohte, sie jederzeit zu verlöschen. Gelegentlich durchbrach der Mond die Wolkenbänke, welche den Himmel bedeckten, sodass Celtillos mehr erkennen konnte.
    Die Familiengräber waren von Mauern gesäumt. Auf den Stelen waren bewaffnete Krieger und Frauen mit Spindeln abgebildet – stets in der Blüte ihrer Jugend, denn Alter und Siechtum waren den Hellenen verpönt. Dennoch raffte der Tod sie alle gleichermaßen hinweg: Alte wie Junge, Weiber wie Männer und Kinder.
    Es gab sie an jeder größeren Begräbnisstätte: die erdgebundenen Geister der Verstorbenen, die das irdische Dasein nicht loslassen konnten. Sie nahmen Cel wahr, doch meist war es zwecklos, mit ihnen zu reden, da sie im Augenblick ihres Todes gefangen blieben. Wie diese Frau, die im weißen Gewand blutend durch die Reihen der Gräber ging. Sie war durchscheinend und so jung, fast so jung wie Sirona und doch gestorben im Kindbett, denn flehentlich rief sie nach ihrem verlorenen Säugling – dabei war sie selbst die Verlorene.
    Das Blut rann von ihren Beinen herab und verdunkelte die Erde. Doch nicht für lange. Das Blut verschwand, es sickerte nicht in den Boden, sondern löste sich einfach auf. Konnten die anderen das und die Tote denn nicht sehen?
    Offenbar nicht, denn Aiolos lief geradewegs durch sie hindurch. Welch Seher er doch war! Andererseits konnte er froh sein, von dieser Gabe, die zugleich ein Fluch war, verschont zu werden. Den Anblick des Geistes der toten Frau, die für alle Ewigkeit ihr Kind suchte, das vermutlich auch schon lange tot war, empfand Cel als verstörend. Er wandte seinen Blick ab.
    Aiolos hielt seine Lampe über ein Grab, auf dem die Überreste von Opfergaben lagen: inzwischen verdorrte Früchte, verschimmeltes Brot, versickerter Wein, Milch, Nüsse, Salz und Kuchen, von welchen die Tiere den größten Teil mitgenommen hatten.
    Cel betrachtete seine Begleiterin von der Seite. Er entschied, sie für sich Lysandra zu nennen. Das Wissen um ihr Geschlecht behielt er vorerst für sich. Er war gespannt, wie lange sie diese Maskerade aufrecht zu erhalten gedachte. Womöglich war es zu ihrem Schutz gedacht, wenn die Hellenen ihre Frauen wirklich einsperrten, wie sie es ihm erzählt hatte.
    Aiolos reichte Lysandra seine Lampe. »Ich brauche die Hände frei. Die Lampe spendet ohnehin nur mickriges Licht. Ich brauche sie hauptsächlich, falls es ein Täfelchen mit Zaubersprüchen zu lesen gibt. Seht zu, dass das Feuer darin nicht erlischt.«
    Seinen Worten gemäß lief Lysandra langsamer und schirmte die Flamme mit einer Hand gegen den Wind ab. Aiolos lief ihnen voran zwischen den Gräbern hindurch. Nebel wogte zwischen den steinernen Stelen. Beinahe lautlos waren seine Schritte. Aiolos’ Umhang verschmolz mit der Nacht. Er wirkte höchst konzentriert, lenkte seine Schritte mal hierhin und mal dorthin. Es war düster und schattig, da der Mond sich wieder hinter einer Wolkenbank verbarg. Celtillos konnte seine eigene Hand kaum vor Augen sehen.
    »Hast du schon eine Spur?«, fragte Lysandra, die ein Stück hinter ihnen lief. Sirona konnte er trotz ihres hellen Felles nirgendwo entdecken.
    »Seid still, ich muss mich sammeln«, sagte Aiolos. »Gleich werde ich fündig. Gleich. Ich spüre es.«
    Celtillos vernahm Schritte, danach ein Knirschen und Knacksen, einen Schlag und schließlich einen gedämpften Schrei. Sein Herz schlug schneller, als er die Stelle suchte, wo Aiolos verschwunden war.
    »Was ist geschehen?«, fragte Lysandra hinter ihm.
    Aiolos sagte etwas, doch Cel verstand ihn nicht. Seine Stimme hörte sich seltsam dumpf an.
    Sie eilten in die Richtung, aus der sie seine Worte vernommen hatten und kamen zu einem Loch im Boden.
    »Ich habs gefunden!«, erklang Aiolos’ Stimme aus dem Grab. »Ich verstehe das
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