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Der Kaufmann von Lippstadt

Der Kaufmann von Lippstadt

Titel: Der Kaufmann von Lippstadt
Autoren: Rita Maria Fust
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wird zwangsgeräumt, und dann kann Oliver zum ersten Mal hinein. Das will er auf keinen Fall verpassen.
    Die Meinolfstraße, in der Annika wohnt, ist eine Einbahnstraße, und so kann er auf der linken Seite direkt vor ihrem Haus parken.
    Kurz nach seiner Ankunft machen Annika und Oliver einen Spaziergang durch Paderborn, und Oliver berichtet das Neueste. Die frische Luft und die Bewegung tun ihm gut.
    »Ich habe wahrscheinlich schon einen Mieter für das – mein! – Overkamp’sche Haus«, freut er sich.
    »Ach, wie hast du das denn gemacht? Du warst ja noch nicht einmal drin«, wundert sich Annika.
    »Nein, aber ich habe Anzeigen in der LTZ geschaltet: ›Verkaufsräume zu vermieten‹ und so weiter.«
    »Und?«, fragt Annika.
    » Herr Esser, ein Immobilienmakler, hat sich gemeldet und gesagt, dass ein zahlungskräftiger Apotheker Verkaufsräume sucht. Ein Herr … Jetzt fällt mir der Name des Apothekers nicht ein, egal. – Auf jeden Fall möchte jemand dort eine Apotheke eröffnen«, berichtet Oliver.
    »Aber es gibt doch schon so viele in Lippstadt. Die ›Rathaus-Apotheke‹ ist in der Nähe «, beginnt Annika eine Aufzählung.
    »Und quasi gegenüber ist die ›Markt-Apotheke‹ und dann noch die beim ›Goldenen Hahn‹ gegenüber. Die ›Einhorn-Apotheke‹. Ich glaube, das ist die älteste in Lippstadt«, erinnert sich Oliver gelesen zu haben.
    »Und jetzt noch eine? Was ist das denn für ein Geschäftsmodell?«, wundert sich Annika.
    »Du hast ja recht, aber es kann uns – mir – egal sein. Für die Räume ist es besser, wenn sie nicht leer stehen, und auch für mich ist es besser, wenn ich Miete bekomme. Sonst wird das Overkamp’sche Haus schon wieder zwangsversteigert, wenn ich meinen Kredit nicht bedienen kann. Schließlich kann ich nicht von Luft und Liebe leben. Obwohl – von Liebe vielleicht schon«, lächelt Oliver.
    »Spinner!«, schimpft Annika und freut sich über das Kompliment.
    »Was ist denn dort los?«, fragt Oliver, als er sieht, dass sich viele Menschen auf einem Platz versammelt haben.
    »Heute ist doch der 9. November. Da vorne steht das Mahnmal ›An der alten Synagoge‹. Es wird die Gedenkfeier sein«, sagt Annika. »Die findet jedes Jahr hier in Paderborn statt. Wie spät ist es denn?«
    »20 nach sechs«, sagt Oliver mit einem Blick auf seine Uhr.
    »Lass uns einen Moment zuhören, ja?«, bittet Annika.
    »Kein Problem.«
    Annika und Oliver hören, wie die Namen aller in Paderborn ermordeten Juden verlesen werden; sie hören, wie an das Paderborner Arbeitslager und an das Schicksal der Kinder des Waisenhauses erinnert wird. Ein jüdisches Gebet wird gesprochen, Kerzen werden angezündet, und ein Kranz wird niedergelegt. Verschiedene Redner sprechen. 122
    »Uns allen ist es ein großes Anliegen, ein Zeichen zu setzen und sich gegen jede Form von Gewalt auszusprechen« 123 , sagt Bürgermeister Heinz Paus. Dann spricht er über die israelische Regierung und den Gazastreifen. »Israel kann sich auf Deutschland verlassen. Aber auch unter Freunden muss Kritik möglich sein.« 124
    »Da hat er recht«, flüstert Annika, während der Frauenchor singt. »Du kannst dich auch auf mich verlassen, aber ich werde dich auch kritisieren, wenn es sein muss.«
    »Habe ich was falsch gemacht?«, fragt Oliver erschrocken.
    »Heute noch nicht«, flüstert Annika. »Aber manchmal nervst du mich schon mit deinen alten Geschichten.«
    »Alte Geschichten? › Wer nicht von dreitausend Jahren / sich weiß Rechenschaft zu geben / bleib im Dunkeln unerfahren / Mag von Tag zu Tage leben.‹ Das wusste schon Goethe. Ein wahrlich kluger Mann«, gibt Oliver an, als die Gedenkfeier zu Ende ist.
    »Klugscheißer!«, schimpft Annika lachend. »Lass uns etwas essen gehen. Ich habe Hunger.«
    »Ich auch«, sagt Oliver und legt seinen Arm um Annika, als sie Richtung Dom gehen. »Ich bin richtig gerne mit dir zusammen.«
    »Ich auch«, stimmt Annika ihm zu.
    »Du bist auch gerne mit dir zusammen?«, foppt Oliver sie.
    »Doofmann. Ich bin natürlich gerne mit dir zusammen«, lacht Annika und schubst ihn ein Stück zur Seite, um ihn dann wieder an sich zu ziehen. Sie gibt ihm einen Kuss.
    »Na also, geht doch«, freut sich Oliver.
    122 Vgl.: Gegen die Gedankenlosigkeit. Gedenkstunde an der Alten Synagoge mit aktuellen Bezügen . In: Neue Westfälische, 10. November 2010.
    123 Gegen die Gedankenlosigkeit. Gedenkstunde an der Alten Synagoge mit aktuellen Bezügen . In: Neue Westfälische, 10. November
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