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Der Kartograph

Der Kartograph

Titel: Der Kartograph
Autoren: Petra Gabriel
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ich
könnte, wäre ich schon längst auf dem Weg in diese
unbekannte Welt, von der Vespucci schreibt.»
«Das ist auch meine größte Sehnsucht. Lange schon.
Doch ich kann mir eine solche Reise nicht leisten. Aber wenn meine
Seekarte einmal fertig ist und gut wird – vielleicht spricht sich
das ja herum, und vielleicht nimmt mich dann ein Kapitän als
Kartograph an Bord eines Segelschiffes mit auf Entdeckungsfahrt. Stellt
Euch das vor! Ich könnte dann endlich meine Kenntnisse
komplementieren. Es gibt noch so vieles, was ich nicht weiß, was
ich mir noch nicht einmal vorstellen kann.» Er deutete auf den
Sternenhimmel, der durch die Wolkenlücken hindurchblitzte.
«Ich komme mir so klein vor angesichts dieser ganzen
Unendlichkeit. So viel Unbekanntes gibt es noch zu entdecken. Einmal
über den Atlantik fahren, diese neuen Territorien mit eigenen
Augen sehen, selbst nachprüfen zu können, was ich bisher nur
aus zweiter und dritter Hand weiß, ja, das wäre mein
großer Traum.»
Für eine Weile schwiegen sie wieder. Sie erreichten die
Brücke über den Rhein, überquerten sie und wandten sich
nach links in Richtung des Kornmarktes. Ihre Schritte hallten durch die
Stille der Nacht. Plötzlich hörten sie das Holpern von
Wagenrädern, den Lärm von wild dahingaloppierenden
Pferdehufen. Eilends drückten sie sich an eine Hauswand. Und da
war der Spuk auch schon vorbei. Beide blickten dem Gefährt perplex
hinterher.
«Da hatte es jemand eilig», stellte Matthias Ringmann fest.
«Offensichtlich», erwiderte Martin Waldseemüller. Er
war mit seinen Gedanken woanders und hatte den Vorfall schon so gut wie
vergessen. «Sagt, habt Ihr schon einmal die Karten von Alberto
Cantino und Nicolo Caverio gesehen? In ihnen sind einige der
Entdeckungen von Kolumbus und Miguel Corte Real schon
berücksichtigt. Ich konnte leider nur eine schlechte Kopie der
Cantino-Karte erwerben, ich halte sie für sehr ungenau. Trotzdem
hüte ich sie wie einen Schatz. Es soll auch neuere portugiesische
Portolankarten von einem mir unbekannten Kartographen geben. Ach, Terra
incognita, unbekanntes Land, neue Welt – klingt das nicht
unglaublich? Nach Wundern, nach Schönheit, nach Abenteuern, nach
Reichtum? Und vielleicht gibt es das Paradies, das Land des Goldes, auf
das alle hoffen, ja wirklich. Dabei ginge es mir gar nicht darum. Wenn
ich nur einmal an Bord einer Karavelle dort hinreisen
dürfte.»
«Stellt Euch eine solche Seereise nicht zu rosig vor. Das
große Abenteuer hat seinen Preis – Gestank, Enge,
Krankheiten, Auseinandersetzung mit den Eingeborenen. Einige der
Männer Vespuccis sollen sogar von ihnen verspeist worden sein.
Aber das wisst Ihr ebenso gut wie ich. Habt Ihr nicht doch noch einen
zweiten Traum? Einen geheimen? Zum Beispiel den, dort ein Vermögen
zu machen und als wohlhabender Mann eine Frau wie Marie Grüninger
zu heiraten?»
Martin Waldseemüller zog ein Gesicht. «Ich bin keiner dieser Glücksritter.»
«Nein, verzeiht, das wäre wahrlich auch zu kurz gegriffen.
Eure Ziele reichen weiter, dessen bin ich mir gewiss. Ihr seid auf der
Suche nach den Schätzen des Wissens. Manches Mal frage ich mich
allerdings, ob es nicht besser wäre, wenn es bei den Träumen
bliebe. Die Wirklichkeit kann sehr ernüchternd sein. Dennoch
gestehe ich, dass auch ich träume. In diesen unbekannten Regionen
könnten so viele Abenteuer, unerwartete Entdeckungen, Neues unter
einem anderen Himmel auf uns warten, vielleicht eine aufregende, eine
andere Welt voller Wunder, eine, in der die Menschen friedlich
zusammenleben, in der es keine Bosheit, keinen Neid, keine Missgunst,
sondern nur Eintracht und Harmonie gibt. Und vielleicht auch noch ein
paar exotische Schönheiten.»
Er lachte. Philesius hatte ein warmes, ein ansteckendes Lachen, das
ganz tief aus seinem schlaksigen Körper kam und sich mit einem
kleinen Glucksen seinen Weg bahnte. «Ihr seht, ich bin wirklich
ein Träumer. Manche behaupten sogar, ich sei weltfremd. So teilen
wir also auch eine zweite Sehnsucht, nicht wahr? Übrigens: Ich
glaube nicht an die Kannibalen, wie sie auf Eurem Druck zu sehen sind.
Und auch an den Erzählungen über die Menschenfresser, die
Vespuccis Leute gekocht und deren Knochen abgenagt haben sollen, habe
ich so meine Zweifel. Kolumbus hat die Indier, wie er sie nennt,
ursprünglich als sehr freundliche Menschen beschrieben.»
Ohne dass sie es gemerkt hatten, waren wieder Wolken aufgezogen. Es
begann erneut zu regnen, die ersten schweren Tropfen klatschten auf
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