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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge
Autoren: J. M. Coetzee
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herkommen und schon abgenutzt sind. Was er schreiben würde, wenn er könnte, wenn es nicht Mr. Whelan lesen würde, wäre etwas Dunkleres, etwas, das, wenn es erst einmal aus seiner Feder zu fließen begänne, sich unkontrolliert über die Seite ausbreiten würde wie vergossene Tinte. Wie vergossene Tinte, wie Schatten, die über eine stille Wasserfläche huschen, wie Blitze, die über den Himmel zucken.
      Mr. Whelan hat auch die Aufgabe, die nichtkatholischen Schüler von Klasse Sechs zu beschäftigen, während die katholischen Schüler Katechismusunterricht haben. Er soll eigentlich das Lukas-Evangelium mit ihnen lesen. Statt dessen hören sie immer wieder von Parnell und Roger Casement und der Niedertracht der Engländer. Aber einige Tage lang kommt Mr. Whelan mit der Cape Times in der Hand in die Klasse und kocht vor Wut über die neuesten Greueltaten der Russen in ihren Satellitenstaaten. »In ihren Schulen haben sie Atheismusstunden eingeführt, wo die Kinder gezwungen werden, auf das Kruzifix zu spucken«, donnert er. »Die ihrem Glauben treu bleiben, werden in berüchtigte Gefangenenlager gesteckt. Das ist die Realität des Kommunismus, der die Frechheit hat, sich die Religion vom Menschen zu nennen.«
      Durch Bruder Otto hören sie von der Verfolgung der Christen in China. Bruder Otto ist nicht wie Mr. Whelan – er ist still, errötet leicht, muß dazu überredet werden, Geschichten zu erzählen. Aber seine Geschichten haben größere Autorität, weil er wirklich in China gewesen ist. »Ja, ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, sagt er in seinem unbeholfenen Englisch, »Menschen in einer winzigen Zelle eingesperrt, so viele, daß sie keine Luft mehr bekamen und gestorben sind. Ich habe es gesehen.«
      Ching-Chong-Chinamann, nennen die Jungen Bruder Otto hinter seinem Rücken. Für sie ist das, was Bruder Otto über China oder Mr. Whelan über Rußland erzählt, nicht realer als Jan van Riebeeck oder der Große Treck. Doch weil Jan van Riebeeck und der Treck auf dem Lehrplan von Klasse Sechs stehen und der Kommunismus nicht, kann, was in China und Rußland vor sich geht, ignoriert werden. China und Rußland sind nur Vorwände, um Bruder Otto oder Mr. Whelan zum Erzählen zu bringen.
      Er für sein Teil ist beunruhigt. Er weiß, daß die Geschichten seiner Lehrer Lügen sein müssen, aber ihm fehlen die Mittel, es zu beweisen. Er ist unzufrieden, daß er wie gebannt dasitzen und ihnen zuhören muß, aber zu schlau, um zu protestieren oder sogar Einwände zu erheben. Er hat die Cape Times gelesen und weiß, was mit Gleichgesinnten passiert. Er möchte nicht denunziert und geächtet werden.
      Wenn Mr. Whelan auch beileibe nicht begeistert davon ist, den Nichtkatholiken die Heilige Schrift nahezubringen, kann er doch die Evangelien nicht ganz vernachlässigen. »Und wer dich schlägt auf einen Backen, dem biete den anderen auch dar«, liest er aus dem Lukas-Evangelium vor. »Was will Jesus damit sagen? Will er sagen, daß wir nicht mutig unsere Sache vertreten sollen? Will er sagen, daß wir Weichlinge sein sollen? Natürlich nicht. Aber wenn ein Rowdy zu dir kommt und eine Schlägerei anzetteln will, sagt Jesus: Laß dich nicht provozieren. Es gibt bessere Möglichkeiten, Meinungsverschiedenheiten auszutragen, als durch Handgreiflichkeiten.«
      »Denn wer da hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, von dem wird genommen, auch was er meint zu haben. – Was will Jesus damit sagen? Will er damit sagen, der einzige Weg, Erlösung zu erlangen, besteht darin, allen Besitz zu verschenken? Nein. Wenn Jesus gewollt hätte, daß wir in Lumpen herumlaufen, hätte er das gesagt. Jesus spricht in Gleichnissen. Er sagt uns, daß die unter uns, die wahrhaft glauben, den Himmel zum Lohn erhalten, während auf die Ungläubigen ewige Höllenpein wartet.«
      Er fragt sich, ob Mr. Whelan sich bei den Brüdern erkundigt – besonders bei Bruder Odilo, der die Schulfinanzen verwaltet und das Schulgeld einsammelt –, ehe er den Nichtkatholiken diese Lehrsätze verkündet. Mr. Whelan, der Laienlehrer, glaubt eindeutig, daß Nichtkatholiken Heiden sind, verdammt.
      Die Brüder selber sind dagegen recht tolerant.
      Sein innerer Widerstand gegen Mr. Whelans Bibelstunden geht tief. Er ist sich sicher, daß Mr. Whelan keinen Schimmer davon hat, was die Gleichnisse Jesu wirklich bedeuten.
      Obwohl er selbst Atheist ist, schon immer gewesen ist, hat er das Gefühl, Jesus besser zu verstehen als Mr. Whelan. Ihm ist
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