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Der illustrierte Mann

Der illustrierte Mann

Titel: Der illustrierte Mann
Autoren: Ray Bradbury
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seiner Stirn ausbrechen.
    »Laß uns wieder hinausgehen«, sagte er. »Diese Sonne ist mir etwas zu wirklich. Aber sonst finde ich nichts daran auszusetzen.«
    »Bleib noch einen Augenblick, du wirst's schon sehen«, erwiderte seine Frau.
    Die verborgenen Odorophone begannen jetzt den beiden in der Mitte der ausgedörrten Steppe stehenden Menschen Gerüche entgegenzublasen: den heißen, strohigen Geruch trockenen Grases, den Duft nach kühlem Grün von dem versteckten Wasserloch, die strenge, harte Ausdünstung von Tieren – und der Geruch nach Staub hing in der hitzeflimmernden Luft. Und dann die Geräusche: das dumpfe Dröhnen von Antilopenhufen in der Ferne, das papierartige Rauschen von Geierschwingen. Ein Schatten zog durch den Himmel. Der Schatten strich über George Hadleys nach oben gerichtetes, schweißbedecktes Gesicht.
    »Scheußliche Tiere«, hörte er seine Frau sagen.
    »Aasgeier.«
    »Siehst du, dort sind die Löwen, weit hinten, dort drüben. Sie gehen gerade zum Wasserloch hinüber. Sie haben eben gefressen«, sagte Lydia. »Ich weiß nur nicht, was.«
    »Irgendein Tier.« George Hadley hob die Hand, um seine zusammengekniffenen Augen gegen das beißende Licht zu beschirmen. »Ein Zebra vielleicht oder eine junge Giraffe.«
    »Bist du sicher?« Die Stimme seiner Frau klang merkwürdig gespannt.
    »Nein, um es genau sagen zu können, ist es ein bißchen zu spät«, antwortete er amüsiert. »Nichts mehr zu sehen als abgenagte Knochen und Aasgeier, die sich auf die Reste stürzen.«
    »Hast du den Schrei gehört?« fragte sie.
    »Nein.«
    »Vor ungefähr ein paar Minuten?«
    »Tut mir leid, nein.«
    Die Löwen kamen auf sie zu. Und wieder verspürte George Hadley grenzenlose Bewunderung für das Genie des Mannes, der dieses Zimmer erdacht hatte. Ein Wunder an physikalisch-technischen Funktionen für einen lächerlich geringen Preis. Jede Familie sollte so ein Zimmer besitzen. Nun ja, gelegentlich erschreckte es einen mit seiner klinischen Genauigkeit, ängstigte einen und ließ die Haare zu Berge stehen, doch die meiste Zeit bot es einen gewaltigen Spaß – nicht nur für den Sohn und die Tochter, sondern auch für einen selbst, wenn man das Bedürfnis nach einem Tapetenwechsel verspürte, einer kleinen Spritztour in ein fremdes Land. Bitte sehr, hier war es!
    Und hier waren jetzt die Löwen, etwa fünf Meter entfernt und so wirklich, so beängstigend und erstaunlich wirklich, daß man ihr Fell an den Händen prickeln zu spüren glaubte und die Kehle von dem staubigen Raubtiergeruch ihrer erhitzten Pelze wie verstopft war. Ihr leuchtendes Gelbbraun hatte die Farbe feiner französischer Wandteppiche, das Gelbbraun von Löwen und Steppengras und das knurrende Atmen der Tiere klang wie gedämpftes Gezeitenrollen durch den stillen Mittag, während der Geruch rohen Fleisches aus ihren hechelnden Rachen zu ihnen herüberwehte.
    Die Löwen standen da und starrten George und Lydia Hadley aus furchterregenden grüngelben Augen an.
    »Paß auf!« schrie Lydia.
    Die Löwen kamen auf sie zugelaufen.
    Lydia fuhr herum und rannte. George sprang instinktiv hinter ihr her. Draußen im Korridor, als sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatten, stand sie weinend und er lachend da, und beide waren entsetzt über die Reaktion des anderen.
    »George!«
    »Lydia! Oh, meine liebe, arme, süße Lydia!«
    »Sie haben uns beinahe erwischt!«
    »Schemen, Lydia, vergiß das nicht; nichts als Schemen. Nun ja ich muß zugeben, daß sie sehr echt aussehen – Afrika in der eigenen Wohnung – aber das sind alles nur dimensionale Superreaktionen, höchstempfindlicher Farbfilm und auf Band aufgezeichnete geistige Vorstellungen hinter Glasscheiben. Odorophone und Geräuschkulissen, Lydia. Hier, nimm mein Taschentuch.«
    »Ich habe Angst.« Sie trat zu ihm, preßte sich gegen seinen Körper und weinte unablässig. »Hast du's nicht gesehen? Hast du's nicht gefühlt? Es ist einfach zu echt.«
    »Bitte, Lydia ...«
    »Du mußt Wendy und Peter sagen, daß sie nichts mehr über Afrika lesen dürfen.«
    »Selbstverständlich – selbstverständlich.« Er streichelte sie beruhigend.
    »Versprichst du's mir?«
    »Gewiß doch.«
    »Und du mußt das Kinderzimmer für ein paar Tage abschließen, bis meine Nerven sich wieder beruhigt haben.«
    »Du weißt, wie widerspenstig Peter in dieser Sache ist. Als ich ihn vor einem Monat damit bestrafte, das Kinderzimmer nur für ein paar Stunden abzuschließen – wie er sich da aufgeführt hat! Und
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