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Der illustrierte Mann

Der illustrierte Mann

Titel: Der illustrierte Mann
Autoren: Ray Bradbury
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Die Tür schwang weit auf. Er trat hinaus. Ins Nichts? In nachtschwarze Flut, in Meteorstaub und glühende Gase? In die Unendlichkeit, schwebend in rasender Geschwindigkeit?
    Nein. Fiorello lächelte.
    Rings um das zitternde, bebende Raumschiff erstreckte sich der Schrottplatz.
    Rostend und unverändert stand dort das eiserne Tor mit dem Vorhängeschloß, leuchteten drüben die Küchenfenster seines Hauses am Ufer des stillen Flusses, der immer noch demselben Meer entgegenströmte. Und in der Mitte des Schrottplatzes, magische Träume erzeugend, lag das bebende, brummende Raumschiff. Rüttelnd und fauchend, die wieder angeschnallten Kinder wie Fliegen in einem Spinnennetz schaukelnd.
    Maria stand am Küchenfenster.
    Er konnte nicht erkennen, ob sie zurückwinkte. Ein kurzes Winken, vielleicht. Ein leichtes Lächeln.
    Die Sonne stieg über den Horizont.
    Fiorello kletterte hastig ins Raumschiff zurück. Stille. Alle schliefen noch. Er atmete auf. Er schnallte sich ebenfalls fest und schloß die Augen. Im stillen betete er: O Gott, laß ihnen noch sechs Tage diese Illusion. Laß den ganzen Weltraum vor ihren Augen kommen und gehen, den roten Mars unter unserem Schiff aufsteigen, mitsamt seinen Monden – laß den Farbfilm nicht reißen. Laß keinen Kurzschluß die Steuerung der verborgenen Spiegel und Linsen zusammenbrechen, die diese wunderbare Illusion bewirken. Laß nichts ihr Glück zerstören.
    Er erwachte.
    Der rote Mars schwebte unter dem Raumschiff.
    »Papa!« Die Kinder zappelten, wollten losgeschnallt werden.
    Fiorello schaute hinaus und betrachtete den roten Mars, und er war unglaublich schön, und kein Fleckchen oder Farbfehler trübte ihn. Fiorello war sehr glücklich.
    Am Abend des siebenten Tages hörte das Raumschiff auf zu rütteln.
    »Wir sind zu Hause«, sagte Fiorello.
    Sie taumelten aus dem Raumschiff und gingen über den Schrottplatz; das Blut in ihren Adern sang, ihre Gesichter glühten.
    »Ich habe Spiegeleier mit Schinken für euch alle«, begrüßte Maria sie an der Küchentür.
    »Mama, Mama, du hättest mitkommen müssen! Wir haben den Mars gesehen und die Meteore, Mama, und die Sterne und alles!«
    »Ach, Mama, es war wunderbar!«
    »Ja«, sagte sie, »ich glaub's euch, es war wunderbar!«
    Vor dem Zubettgehen umringten die Kinder ihren Vater. »Wir möchten dir danken, Papa.«
    »Nicht der Rede wert.«
    »Wir werden unser ganzes Leben daran denken, Papa. Wir werden es nie vergessen.«
     
    Mitten in der Nacht erwachte Bodoni und öffnete die Augen. Er spürte, daß seine Frau ihn beobachtete. Lange Zeit regte sie sich nicht, doch plötzlich beugte sie sich über ihn und küßte ihm Wangen und Stirn.
    »Was ist das?« rief er, Überraschung heuchelnd.
    »Du bist der beste Vater auf der ganzen Welt«, flüsterte sie.
    »Warum?«
    »Weil ich jetzt alles verstehe«, antwortete sie.
    Sie legte sich zurück und schloß die Augen hielt seine Hand fest. »Ist die Reise wirklich so schön?« fragte sie.
    »Ja«, erwiderte er.
    »Vielleicht«, sagte sie, »vielleicht kannst du mich eines Nachts mitnehmen nur ein kleines Stückchen?«
    »Ein kleines Stückchen«, meinte er, »das wird sich vielleicht machen lassen.«

Epilog
     
     
    Es war fast Mitternacht. Der Mond stand hoch am Himmel. Der illustrierte Mann lag regungslos. Ich hatte gesehen, was zu sehen war. Die Geschichten waren erzählt; sie waren vorbei und verweht.
    Nur die leere Stelle auf dem Rücken des illustrierten Mannes, jenes wirre Durcheinander von Farben und Formen, hatte sich mir noch nicht offenbart.
    Jetzt, während ich hinausschaute, begannen die verschwommenen Striche sich zu ordnen, sich aufzulösen, zu verschmelzen, neue Formen anzunehmen. Und schließlich bildete sich ein Gesicht, ein Gesicht, das mir entgegenstarrte, ein Gesicht mit vertrauten Zügen, vertrauten Augen.
    Das Bild war sehr verschwommen. Doch ich erkannte genug um entsetzt aufzuspringen. Zitternd stand ich im Mondlicht, voller Furcht, daß der Wind oder die Sterne ein Geräusch machen könnten, das die unheimliche Galerie zu meinen Füßen zum Leben erweckte. Doch er schlief ruhig weiter.
    Das Bild auf seinem Rücken zeigte den illustrierten Mann, wie er seine Hände um meinen Hals schloß und mich erwürgte. Ich wartete nicht, bis das Bild klar, scharf und deutlich hervortrat.
    Ich rannte die mondhelle Landstraße hinunter, ohne mich noch einmal umzublicken. Vor mir, dunkel und schlafend, lag eine kleine Stadt. Ich wußte, daß ich sie lange vor Tagesanbruch
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