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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick Modiano
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Namen der Kirche vor, da drüben, wo er eines Nachmittags in seiner Kindheit Zuflucht gesucht hatte, um der Rothaarigen – angeblich seine Mutter – und dem falschen Torero zu entwischen. Sainte-Jeanne-de-Chantal.
    Er betrat ein Café und setzte sich gleich an den ersten Tisch, auf eine rote Lederbank. Er stellte sich vor, wie er irgendwelchen Schnaps direkt aus der Flasche trank, was ihm Rausch und Seelenfrieden verschaffen würde. Bei diesem Gedanken musste er lachen, ganz allein, da, auf der Bank. Als der Kellner kam, sagte er mit unsicherer Stimme:
    »Ein Glas Milch, bitte.«
    Er versuchte regelmäßig zu atmen. Sainte-Jeanne-de-Chantal. Langsam ging es ihm besser. Er kam wieder zu Sinnen. Er hätte gern mit irgendwem gesprochen und über seine Angst von vorhin gelacht. Was sollte das … in seinem Alter … Die Avenue Dode-de-la-Brunerie war doch nicht der amazonische Regenwald, oder? Jetzt war er vollkommen beruhigt.
    Er fühlte sich sogar in einem Zustand leichter Benommenheit. Er hatte beschlossen, hier sitzen zu bleiben bis zum Einbruch der Nacht. Er hatte nichts mehr zu befürchten. Seine Mutter und der aus der Kutte Gesprungene patrouillierten seit fast einem halben Jahrhundert nicht mehr in ihrem R4, auf der Suche nach ihm, mit ihren armseligen Gespenstern im Schlepptau.
    Er lauschte mit halbem Ohr den Gesprächen der paar Gäste an den Nachbartischen. Fast neun Uhr abends. Er sah eine schon etwas ältere Frau mit weißem Pagenkopf hereinkommen, die sehr steif am Arm eines jungen Mädchens ging. Sie trug eine schwarze Hose und einen beigen Regenmantel. Das Mädchen half ihr, sich an den Tisch ganz hinten zu setzen, und nahm neben ihr auf der Bank Platz. Die Frau hatte ihren Regenmantel nicht ausgezogen.
    Bosmans betrachtete sie zunächst, wie er auch die anderen Gäste betrachtet hatte: mit einem Blick, der nicht verweilte, ein wandernder Blick, der an einem Gesicht hängenblieb, an einem Passanten jenseits der Glasfront, und dort drüben, auf der anderen Seite des Platzes, an der Kirche Sainte-Jeanne-de-Chantal. Das Mädchen reichte der weißhaarigen Frau einen Taschenkalender, und diese schrieb mit der linken Hand ein paar Worte hinein. Die eigenartige Haltung der Hand bei Linkshändern, diese beim Schreiben fast geschlossene Faust, hatte ihn immer beeindruckt. War es das, was eine düstere Erinnerung in ihm wachrief? Er ließ seinen Blick auf dem Gesicht dieser Frau ruhen, und plötzlich, nach so vielen Jahren, glaubte er sie wiederzuerkennen. Yvonne Gaucher. Yvonne Linkshänder. Eines Nachmittags, als er und Margaret bei ihr zu Hause waren und er sie mit der linken Hand schreiben sah, hatte er gesagt: »Sie tragen Ihren Namen zu Recht.«
    Jahrzehnte waren seither verflossen … Die Tatsache, dass Yvonne Gaucher noch lebte, nur wenige Meter von ihm entfernt, und er nur aufzustehen brauchte, um mit ihr zu sprechen – doch er wusste nicht mehr, ob er sie früher mit ihrem Vornamen anredete –, ließ ein merkwürdiges Gefühl in ihm aufsteigen. Er war nicht imstande, zu ihr hinzugehen. Sie würde mich ja doch nicht erkennen, dachte er. Und selbst wenn ich ihr meinen Namen und den von Margaret sage, wird sie damit nichts verbinden. Manche Begegnungen aus der frühen Jugendzeit bleiben einem lebhaft in Erinnerung. In diesem Alter weckt alles Verwunderung, alles scheint neu … Aber von den Männern und Frauen, denen man über den Weg gelaufen ist und die einen Teil ihres Lebens schon gelebt hatten, kann man kein ebenso genaues Gedächtnis verlangen. Margaret und ich, wir waren für sie bestimmt nur zwei junge Leute unter vielen anderen, mit denen sie für kurze Zeit Umgang hatte. Und kannte sie damals überhaupt unsere Namen und unsere Vornamen?
    Hin und wieder drehte sie sich zu dem Mädchen, mit der gleichen Steifheit, die Bosmans schon beim Gehen an ihr bemerkt hatte. Vorhin hatte sie ihren Arm festgehalten und sich auf sie gestützt. Ihr Schritt war sehr langsam, das Mädchen hatte ihr beim Hinsetzen auf die Bank geholfen. Sie ist erblindet, dachte Bosmans. Nein, sie las die Speisekarte. Einfach nur das Alter.
    Hätte ich vorhin nicht dieses Unbehagen verspürt, dann würde ich den Mut aufbringen und zu ihr gehen und sie ansprechen, auch auf die Gefahr, dass sie mich nicht wiedererkennt. Vielleicht wohnt sie in der Avenue Dode-de-la-Brunerie, unter den Hunderten und Aberhunderten von Menschen in diesen großen Mietshäusern. Yvonne Gaucher. Mademoiselle Clément. Lauter Namen, die keine
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