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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick Modiano
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erstreckte sich der Parc de Bercy, wo vorhin Margarets Doppelgängerin – vielleicht sie, in einem anderen Leben – einen leeren Kinderwagen geschoben hatte.
    »Eine Menthe à l’eau. Und für Sie?«
    »Das gleiche«, sagte Bosmans.
    »Wie groß soll die Wohnung denn sein?«
    »Oh … bloß ein Einzimmerappartement.«
    »Dann habe ich eine große Auswahl, hier in der Gegend und auf der anderen Seite der Seine.«
    Und er zeigte mit dem Arm auf die Wolkenkratzer am Seineufer, jenseits des Parc de Bercy, die Bosmans vorhin zum ersten Mal gesehen hatte.
    »Sind das neue Straßen?« fragte Bosmans.
    »Ja, knapp fünf Jahre alt. Ich wohne selbst da drüben. Ich muss nur über die Brücke gehen, wenn ich morgens ins Büro will. Ich komme praktisch nie ins alte Paris.«
    »Und ins alte Annecy?« fragte Bosmans.
    Er bemerkte bei seinem Gegenüber ein leichtes, überraschtes Zusammenzucken. Der Oberkörper blieb jedoch kerzengerade.
    »Ach ja … Sie haben’s schon gesagt … Sie erinnern sich an einen Boyaval in Annecy …«
    Er lächelte mit einem etwas gekünstelten Lächeln.
    »Haben Sie in Annecy gewohnt?«
    »Nein, aber ich hatte Freunde dort, und die haben mir von einem Boyaval erzählt.«
    »Das muss aber in grauer Vorzeit gewesen sein.«
    Sein Lächeln wollte offener, freundschaftlicher wirken.
    »Vor wenigstens vierzig Jahren«, sagte Bosmans.
    Schweigen. Der andere hatte den Kopf gesenkt, als konzentriere er sich, um eine wichtige Erklärung abzugeben, und als suche er nach Worten. Plötzlich hob er ihn wieder und musterte Bosmans mit seinen grauen Augen.
    »Ich weiß nicht, was Ihre Freunde Ihnen gesagt haben … Mein eigenes Gedächtnis ist sehr schlecht.«
    »Nichts Besonderes«, sagte Bosmans. »Dieser Boyaval wäre fast in die französische Skinationalmannschaft gekommen.«
    »Dann handelt es sich tatsächlich um dieselbe Person.«
    Bosmans war überrascht von der heiseren Stimme, dem traurigen Lächeln, den Gesichtszügen, die auf einmal erschlafft waren. Er bemerkte die pockennarbige Haut auf den Wangen, als sähe er nun jede Einzelheit dieses Gesichts mit Hilfe von Infrarot- oder Ultraviolettstrahlen. Der andere trank, um seine Verwirrung zu überspielen, einen Schluck Menthe à l’eau und sagte schließlich:
    »Nein, nein … ich irre mich … Es handelt sich überhaupt nicht mehr um dieselbe Person …«
    Sein Gesicht hatte sich wieder geglättet und Farbe bekommen. Bosmans staunte über die Veränderung. Er dachte, sein eigener Blick habe die Schärfe der Infrarot- und Ultraviolettstrahlen verloren. Der andere schien nach Worten zu suchen.
    »Wie Sie schon bemerkt haben, Monsieur, das alles ist über vierzig Jahre her …«
    Er zuckte die Schultern.
    »Und was für Freunde hatten Sie in Annecy?«
    »Ein Mädchen. Sie hieß Margaret Le Coz«, sagte Bosmans und sprach die Silben des Namens deutlich aus.
    »Sie sagen: Margaret Le Coz?«
    Vielleicht versuchte er sich zu erinnern. Er runzelte die Stirn. Sein Blick war anderswo.
    »Und sie lebt noch?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Bosmans.
    »Ich erinnere mich an keine Margaret Le Coz«, sagte er mit einer von neuem heiser gewordenen Stimme.
    Und von neuem erschlafften auch die Gesichtszüge, war die Haut auf den Wangen pockennarbig.
    »Wissen Sie, Monsieur, das ist ein wenig so wie in diesem Viertel« – und Bosmans verblüffte die Traurigkeit in seiner Stimme –, »ich weiß nicht, ob Sie die Lagerhallen und den Quai de Bercy gekannt haben … Es hat Platanen gegeben, die ein Laubdach bildeten … Fässerreihen auf dem Quai … Heute fragt man sich, ob das wirklich existiert hat …«
    Er bestellte noch eine Menthe à l’eau.
    »Nehmen Sie das gleiche?«
    »Ja.«
    Er beugte sich zu Bosmans:
    »Wenn wir zurück im Büro sind, mache ich Ihnen eine kleine Liste mit unseren freien Einzimmerappartements. Es gibt welche, die sehr geräumig sind und sehr hell.«
    Er hatte seine linke Hand flach auf den Tisch gelegt. Mit der rechten hatte er den Löffel von der Untertasse genommen, und mit dem Stiel hämmerte er zwischen seinen gespreizten Fingern auf den Tisch. Bosmans konnte den Blick nicht losreißen von den Narben auf seinem Handrücken und an Mittel- und Ringfinger. Es sah aus, als sei diese Hand einstmals von unzähligen Messerstichen zerschlitzt worden.
    Wenig später – dieselbe Jahreszeit, ein ungewöhnlicher Frühling, in dem es mehrere Tage lang so heiß war wie im Juli – hatte Bosmans wieder ein, wie er es nannte,
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