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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter
Autoren: Oliver Pötzsch
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Frater Johannes starrte sie irritiert an.
    »Das Licht dort oben im Kirchturm. Habt Ihr nicht selbst gesagt, der Turm sei völlig ausgebrannt und zerstört? Und trotzdem brennt dort oben ein Licht.«
    Auch Simon sah nun zum Kloster hinauf. Tatsächlich flackerte über dem Kirchenschiff, dort, wo der Blitz vor vier Wochen in den Glockenstuhl eingeschlagen hatte, ein winziges Licht. Es war mehr ein schwaches Schimmern. Als der Medicus genauer hinblickte, war es plötzlich verschwunden.
    Johannes schirmte seine Augen ab und blinzelte. »Ich kann nichts sehen«, sagte er schließlich. »Vielleicht das Wetterleuchten. Dort oben ist jedenfalls keiner, wäre viel zu gefährlich in der Nacht. Der Turm ist zwar zum größten Teil schon wieder aufgebaut, aber das Dachgeschoss und die Treppen sind noch in einem schlimmen Zustand.« Er zuckte mit den Schultern. »Außerdem, was sollte jemand um diese Zeit dort oben zu suchen haben? Die Aussicht genießen?« Er lachte kurz auf, doch Simon hatte das Gefühl, dass sein Lachen künstlich klang. Sein Blick schien leicht zu flackern. Schnell drehte sich der Mönch zu den anderen Pilgern um.
    »Ich schlage vor, dass ihr diese Nacht gemeinsam beim Gronerwirt in der großen Scheune schlaft. Morgen werden wir euch dann auf die einzelnen Häuser und Ortschaften verteilen. Und nun gehabt euch wohl.« Frater Johannes rieb sich müde die Augen. »Ich hoffe schwer, dass mein junger Gehilfe mir noch meinen geliebten Karpfen mit Brunnenkresse zubereitet hat. Das Retten verirrter Wanderer macht verflucht Hunger.«
    Gemeinsam mit den drei Ratsherren stapfte er auf das Kloster zu. Kurz darauf waren die Männer in der Dunkelheit verschwunden.
    »Und nun?«, sagte Simon nach einer Weile und sah Magdalena fragend an. Die anderen Schongauer begaben sich derweil betend und singend zu der frisch gezimmerten Scheune neben dem Wirtshaus.
    Noch einmal starrte die Henkerstochter zum dunklen Klosterturm hinauf, dann fuhr sie sich übers Gesicht, als wollte sie einen bösen Traum vertreiben.
    »Was schon? Wir werden dorthin gehen, wo wir hingehören.« Mürrisch schritt sie vor Simon her auf das Ende des Dorfes zu, wo ein einzelnes winziges Häuschen am Waldrand stand. Auf dem löchrigen Dach wuchsen Moos und Efeu. Von einem klapprigen Karren vor der Hütte wehte der Geruch von Verwesung zu ihnen herüber. »Im Gegensatz zu den anderen kennen wir hier wenigstens ­jemand.«
    »Nur wen?«, murmelte Simon. »Einen räudigen Abdecker und entfernten Vetter deines Vaters. Na dann, gute Nacht.«
    Mit angehaltenem Atem folgte er Magdalena, die entschlossen an die schiefe Tür des Erlinger Schinders klopfte. Einmal mehr dankte Simon dem Herrgott, dass sie die beiden Kleinen daheim bei ihrem Schongauer Großvater gelassen hatten.
    Oben im Klosterturm flammte erneut ein Licht auf. Wie ein großes böses Auge leuchtete es noch einmal weit hinaus in die Dunkelheit, so als suchte es etwas Bestimmtes in den Wäldern des Kientals.
    Doch weder Simon noch Magdalena bemerkten es.
    Die Gestalt im Turm klammerte sich an einem verkohlten Balken fest und ließ sich den Wind durch die Haare wehen. Am Horizont zuckten Blitze – große, kleine, gezackte, gerade … Hier oben, so nahe am Himmel, spürte der Mann die Macht Gottes am deutlichsten. Oder war es eine andere Macht? Eine, die viel stärker war als dieser brave, gutmütige Weltenlenker, der glaubte, dass die Liebe den Menschen heilen konnte, seinen eigenen Sohn aber am Kreuz hatte verrecken lassen?
    Die Liebe.
    Er brach in hämisches Gelächter aus. Als ob die Liebe irgendetwas bewirken könnte! Konnte sie Menschenleben retten? Konnte sie den Tod überdauern? Wenn ja, dann nur als Stachel in der Brust; eine Wunde, die eiterte und nässte und sich in das Innerste fraß, bis nicht mehr übrig blieb­ als eine leere Hülle. Ein Madensack, an dem sich die Würmer labten.
    Mit leblosen Augen blickte der Mann auf das Häuflein Pilger tief unter ihm, das sich im Gewitter durch den Regen kämpfte, ein frommes Lied singend, buckelnd, betend – ihr Glaube war so stark, dass man ihn förmlich spüren konnte. Hier oben im Turm fühlte er ihn am stärksten, wie einen Blitzstrahl, wie einen Finger des Himmels, der ihn mit göttlicher Kraft versah. Lange hatte er darüber nachgegrübelt, wie er sich seinen Traum erfüllen könnte. Nun stand er kurz vor dem Ziel.
    Er stellte die Laterne auf den Boden, sah sich um und begann mit der Arbeit.

Sonntagmorgen am 13. Juni Anno Domini
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