Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hexer - NR25 - Ein Gigant erwacht

Der Hexer - NR25 - Ein Gigant erwacht

Titel: Der Hexer - NR25 - Ein Gigant erwacht
Autoren: Verschiedene
Vom Netzwerk:
*

    Unter normalen Umständen hätte er die ganze Nacht gebraucht, um den Paß zu erreichen; und einen guten Teil des Vormittages dazu. Aber die Umstände waren nicht normal, und dort oben am Paß war etwas geschehen, das so schrecklich war, daß er keine Rücksicht mehr auf sich selbst nehmen konnte.
    Lancelot Postlethwaite kletterte verbissen weiter. Seine Hände waren längst aufgeschürft, jeder einzelne Fingernagel gesplittert und abgebrochen, und seine Arme schmerzten so, daß er sich fragte, wie er die letzten fünfzig Yards noch bewältigen sollte. Aber er schluckte den Schmerz und die Erschöpfung herunter, zwang seine Muskeln immer wieder aufs neue, sich zu bewegen, und zog sich Stück für Stück an der lotrecht emporstrebenden Granitwand empor.
    Es war Stunden her, aber das Bild stand noch immer so deutlich vor seinem inneren Auge, als wäre es in diesem Moment geschehen: es war ein Alptraum gewesen, das erste Mal in seinem Leben, daß er ernsthaft an seinem Verstand gezweifelt hatte – was durchaus verständlich war. Niemand hätte es mit einem Achselzucken hingenommen, irgendwann gegen Mitternacht von einer fünfzig Tonnen schweren Dampflokomotive geweckt zu werden, die keine hundert Schritte neben seinem Zelt vom Himmel fiel.
    Schon gar nicht Lancelot Postlethwaite, seines Zeichens ordentlicher Professor an der Universität Cambridge und – außer, wenn es um sein Fachgebiet ging – der wohl mit Abstand phantasieloseste Mensch, der jemals geboren wurde.
    Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er begriffen hatte, daß er weder übergeschnappt noch in einem auf besonders perfide Art realistischen Alptraum gefangen war, sondern daß die Lokomotive Wirklichkeit und auch keineswegs vom Himmel, sondern von den Geleisen gestürzt war, die eine halbe Meile über ihm dicht an der Felswand entlangführten. Dann hatte er die Schreie und das fürchterliche, nicht enden wollende Krachen und Bersten gehört, und als er nach oben geblickt hatte, war der Himmel rot von Flammen gewesen, als wären die Wolken mit Blut gefüllt.
    Und seitdem war er unterwegs.
    Lancelot Postlethwaite war kein besonders praktisch veranlagter Mensch. Und seine Phantasie reichte leider Gottes nicht aus, ihm in diesem Moment zu sagen, daß die Strecke geradewegs die Wand hinauf mit Sicherheit kürzer, aber keineswegs schneller war. Auf den ersten hundert Yards war er sogar recht zügig voran gekommen, denn die zyklopische Felswand, an deren Fuß er sein Zelt aufgeschlagen hatte, führte im unteren Drittel zwar steil, aber keineswegs senkrecht in die Höhe. Später war es dann schwieriger geworden, aber Postlethwaite war, quasi von seinem eigenen Schwung getragen, einfach weitergeklettert.
    Ein ganz kurzes Stück über den Punkt hinaus, an dem er noch hätte umkehren können.
    An die darauffolgenden drei, möglicherweise auch vier Stunden weigerte er sich strikt zu denken. Die Wand war immer schwieriger geworden, und wo seine Hände und Füße zu Anfang noch festen Halt gefunden hatten, waren plötzlich nur noch haarfeine Risse im Fels. Lancelot Postlethwaite war in diesem Moment felsenfest davon überzeugt, daß es Steigungen mit deutlich mehr als neunzig Grad gab.
    Langsam, quälend langsam, kam das Ende der Felswand in Sicht, und der Anblick gab Postlethwaite noch einmal Kraft, wenngleich er selbst nicht zu sagen vermochte, woher er sie nahm. Keuchend vor Schmerz und Anstrengung kletterte er weiter, erreichte endlich die Kante und griff blindlings nach oben, auf der Suche nach irgendeinem Halt, an dem er sich auf den sicheren Boden hinaufziehen konnte.
    Eine Hand griff nach der seinen, legte sich mit erstaunlicher Kraft um sein Gelenk und zog ihn mit einem einzigen Ruck nach oben. Postlethwaite schrie vor Schrecken auf, stolperte einen halben Schritt von der Felskante weg und fiel auf die Knie. Für einen Moment begann sich alles um ihn herum zu drehen.
    Ein Mann stand vor ihm, als er aufblickte, gegen den Hintergrund des Nachthimmels nicht mehr als ein schwarzer Schatten. Und er war nicht allein. Hinter ihm bewegten sich weitere Schatten in der Nacht, und durch das Rauschen in seinen Ohren hindurch hörte er das Schnauben von Pferden und den harten metallischen Klang von Hufeisen.
    Mühsam richtete sich Lancelot Postlethwaite auf und sah nach Westen. Der Himmel über dem Paß leuchtete noch immer im blutigroten Widerschein des Feuers, aber er war ein gutes Stück von seinem geraden Weg abgekommen, während er die Felswand
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher