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Der grüne Strahl

Der grüne Strahl

Titel: Der grüne Strahl
Autoren: Jules Verne
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Erinnerung schwebten aus dieser fürchterlichen Nacht nur noch die glücklichen Stunden, die er an der Seite Helenas verbracht, als er sie in jener dunklen Nische mit den Armen umschlungen, um sie vor dem Anprall der Wogen zu schützen. Er sah noch bei dem phosphorescirenden Scheine die Gestalt des schönen jungen Mädchens, die mehr aus Erschöpfung als aus Furcht erbleicht war, wie sie sich gleich einem Genius des Sturmes angesichts des wüthenden Meeres erhob. Er hörte sie noch mit zitternder Stimme sagen: »Wie, Sie wüßten es…?« als er sagte: »Ich weiß, was Sie für mich gethan haben, als ich nahe daran war, im Strudel des Corryvrekan umzukommen!«
    Er glaubte sich wieder im Grunde jener kleinen Aushöhlung, jener Nische, welche eher für die Aufstellung eines Steinbildes geschaffen schien, in der zwei junge liebende Wesen so lange schreckliche Stunden gelitten und Eines an der Seite des Andern gekämpft hatten. Da waren sie nicht mehr Olivier Sinclair und Miß Campbell; sie hatten sich Olivier und Helena genannt, als wollten sie in dem Augenblicke, wo der Tod sie bedrohte, ein neues Leben mit einander beginnen.
    So durchwirbelten Gedanken aller Art das Gehirn des jungen Mannes, als er auf dem Plateau von Staffa umherging. Wie groß auch sein Verlangen war, an Miß Campbell’s Seite zurückzukehren, immer hielt ihn eine unbezwingliche Kraft gegen seinen Willen zurück, weil er in ihrer Gegenwart vielleicht gesprochen hätte und doch schweigen wollte.
    Inzwischen hatte sich, wie das nach plötzlichen gewaltsamen Störungen der Atmosphäre nicht selten vorkommt, die Witterung ganz überraschend schön gestaltet und lächelte der Himmel in wunderbarer Klarheit. Sehr häufig hinterlassen ja hier die heftigsten Südweststürme keine Spuren, verleihen vielmehr der Luft eine Durchsichtigkeit ohne Gleichen. Die Sonne hatte schon ihren höchsten Stand überschritten, ohne daß sich der Horizont auch nur mit dem geringsten Dunst verschleierte.
    Olivier Sinclair wandelte mit siedend heißem Kopfe unter den intensiven Lichtstrahlen, welche das Plateau der Insel widerspiegelte, dahin. Er badete gleichsam in den warmen Effluvien, athmete die wohlthuende Seebrise und stärkte sich in der blendenden Atmosphäre.
    Plötzlich kam ihm ein Gedanke – ein Gedanke, den er vor den anderen, die ihn jetzt bestürmten, fast ganz vergessen hätte – als er den herrlichen reinen Horizont erblickte.
    »Ah, der Grüne Strahl! rief er. Wenn der Himmel jemals unsere Beobachtung begünstigt, so ist es heute der Fall! Keine Wolke, kein Dunstflöckchen! Es ist auch sehr unwahrscheinlich, daß die Eine oder das Andere erscheinen könne, da der gestrige gewaltige Sturm sie weit nach Osten hin vertrieben haben muß. Und Miß Campbell denkt gewiß nicht daran, daß der heutige Tag ihr einen glänzenden Sonnenuntergang bescheeren dürfte. Ich muß… ja… ich muß sie benachrichtigen!«
    Glücklich, einen so natürlichen Grund, sich zu Helena zu begeben, gefunden zu haben, kehrte Olivier Sinclair nach der Clam Shell-Grotte zurück.
    Wenige Augenblicke später stand er Miß Campbell und den beiden Onkels gegenüber, welche jene liebevoll betrachteten, während Frau Beß deren Hand hielt.
    »Miß Campbell, sagte er, es geht Ihnen besser?… Ich seh’ es… sind Sie wieder bei Kräften?
    – Ja, Herr Olivier, antwortete Miß Campbell, beim Erblicken des jungen Mannes leise erzitternd.
    – Ich glaube, es würde Ihnen gut thun, fuhr Olivier Sinclair fort, wenn Sie sich nach dem Plateau begeben und die durch den Sturm gereinigte Luft genießen wollten. Die Sonne ist herrlich und wird Sie wieder erwärmen.
    – Herr Sinclair hat Recht, sagte Bruder Sam.
    – Ja, völlig Recht, setzte Bruder Sib hinzu.
    – Und wenn ich Ihnen Alles verrathen darf, wenn meine Ahnung mich nicht trügt, nahm Olivier Sinclair das Wort, glaube ich, daß Sie binnen wenigen Stunden den theuersten Ihrer Wünsche werden in Erfüllung gehen sehen.
    – Den theuersten meiner Wünsche? murmelte Miß Campbell, als wenn sie nur mit sich selbst gesprochen hätte.
    – Ja… der Himmel ist von wunderbarer Reinheit und allem Anscheine nach zu erwarten, daß die Sonne bei ganz wolkenlosem Horizonte untergehen werde.
    – Wär’s möglich! rief Bruder Sam.
    – Wär’s möglich! wiederholte Bruder Sib.
    – Ich habe alle Ursache zu glauben, setzte Olivier Sinclair hinzu, daß Sie am heutigen Abend den Grünen Strahl werden beobachten können.
    – Den Grünen Strahl!«…
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