Der große Blowjob (German Edition)

Jackentasche, und während ich durch das Gebäude streife, muss ich zwischendurch innehalten und auf Lebenszeichen horchen, weil das Knacken von altem Linoleum und Glasscherben unter meinen Füßen mich verrät.
    In einer Ecke der Eingangshalle steht eine Tür zum Keller offen, aber da runter traue ich mich nicht. Wer weiß, wen ich dort wecken könnte? Stattdessen steige ich eine breite, geschwungene Treppe hoch. Ich trete durch eine lederbezogene Doppeltür, und vom Balkon des Theatersaals aus sehe ich hinunter auf die große alte Bühne. Dahinter befindet sich eine eingerissene Leinwand, von jahrelangem Zigarettenrauch, Erbrochenem, wer weiß was noch allem verdreckt, wahrscheinlich war das Haus in seinen letzten Jahren ein Pornokino. Hinter der fleckigen Leinwand hängen riesige rote Samtvorhänge, die unten zerschlissen und voller Stockflecken sind. Vor den Pornos muss es eine Art richtiger Kulturpalast gewesen sein. Ich kann mir vorstellen, wie der Saal an einem Samstagabend in den Vierzigern mit den soliden, freundlichen Bürgern eines amerikanischen Arbeiter-Utopias gefüllt war. Eines Ortes, wo, zum ersten und letzten Mal in der Menschheitsgeschichte, ein gutes Herz und ein starker Rücken einem Mann während seines kurzen, glücklichen Lebens einen ganz annehmbaren Komfort und Selbstwertgefühl verschafften. Die Enkel dieses Mannes sind heute dreimal geschieden und in der Entzugsklinik oder im Knast. Ich steige die mit zerfetztem und versifftem Teppich bedeckte Marmortreppe weiter hoch, und schließlich komme ich zu einer Tür. Ich weiß nicht, wo diese Tür hinführt, aber sie wird durch ein Tischbein ein paar Zentimeter offengehalten, und durch den Spalt strömt Tageslicht herein. Ich stoße die Tür auf, und ich befinde mich auf dem Dach des Theaters, mit einem Panoramablick auf den großartigen Staat Ohio. Ich trete an die Brüstungsmauer und schaue in die Ferne. Im Osten geht gerade die Sonne auf, aber ich blicke nach Westen, in Richtung der Great Plains und meines neuen, zukünftigen Lebens. Wer weiß, was es alles mit sich bringen wird. Und dann sehe ich eine Art Dunst vom Horizont herüberziehen, der die Umrisse von allem verschwimmen lässt, die Dächer der zweistöckigen Häuser unter mir und die großen Einkaufszentren weiter draußen mit ihren leeren Parkflächen, flache graue trapezförmige Abstraktionen, die immer unschärfer und verschwommener werden, als würde ein Sandsturm oder eine Giftgaswolke alles vernebeln. Und dann wird mir klar, dass es nichts dergleichen ist, ich bin es, meine Augen verursachen das, es sind meine Tränen. Ich lasse sie kommen.
    Ich lasse sie fließen, während ich hier an diesem Sims des Schicksals stehe, nackt, auf den Gletscher hinausstarrend, wie Howard Roark es tun würde. Es ist so bescheuert episch, dass in der Ferne Glocken läuten. Aber dann wische ich mir mit dem Ärmel über die Augen und merke, dass die Geräusche aus meiner Jackentasche kommen. Ich hole mein Handy raus und es klingelt, und auf dem Bildschirm steht wieder BLOCKIERT .
    Ich starre auf das Display und lasse es noch zweieinhalbmal klingeln, um nicht zu begierig zu wirken, und dann melde ich mich.
    «Hi», sage ich.

Über Peter Mattei
    Peter Mattei arbeitet als Autor und Regisseur für Theater, Film und Fernsehen. Er hat ein Theater gegründet, einen Spielfilm nach Schnitzlers «Reigen» gedreht und lebt in Brooklyn. «Der große Blowjob» ist sein Romandebüt.

Über dieses Buch
    Eric ist von seiner Werbeagentur angestellt worden, weil er so gut Leute rausschmeißen kann. Er liebt diese Aufgabe. Er macht sie zur Kunst. Alle hassen ihn. Aber ein cooler Hund ist Eric doch. Bis zu der drogendicken Party, von der er die Praktikantin mitnimmt. Dumme Idee und sie haben noch nicht mal Sex. Die Kleine ist echt gestört, vielleicht auch von seinen Feinden auf ihn angesetzt. Aber Eric befällt ein unbekanntes Gefühl:
    Liebe.
     
    Am nächsten Tag heißt es, die Praktikantin sei im Krankenhaus. Hat Eric ihr wirklich mit der Faust ins Gesicht geschlagen? Wer lügt denn hier jetzt? Das Mädchen? Erics Chef? Eric selbst? Eins ist jedenfalls klar: Für den harten Sanierer gibt es nur noch eine Richtung:
    abwärts.

Impressum
    Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel «The Deep Whatsis» bei Otherpress LLC , New York.
     
    Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2013
    Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
    «The Deep Whatsis» Copyright © 2013 by