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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman
Autoren: Jennifer Egan
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hier mit seinem Äußeren gewesen war, das selbst dann schmuddelig und ungekämmt wirkte, wenn er frisch geduscht und rasiert war. Stephanie dagegen war unterdessen ins erste Doppel des Clubs aufgestiegen.
    »Hör mal, Chris«, sagte Bennie. »Ich muss da eine Band besuchen – zwei junge Schwestern. Na ja, jüngere Schwestern. Ich wollte das später machen, aber wenn du Lust hast, könnten wir …«
    »Sicher.«
    »Wirklich?«
    »Ja.«
    Bedeuteten »sicher« und »ja«, dass Chris nachgab, um Bennie einen Gefallen zu tun, wie Dr. Beet es schon oft bei ihm beobachtet hatte? Oder hatte die vom Gold erweckte Neugier ein neues Interesse an Bennies Arbeit hervorgerufen? Chris war natürlich zwischen Rockgruppen aufgewachsen, aber er gehörte der Generation Plagiat an, die von Urheberrecht noch nie etwas gehört hatte. Bennie machte das natürlich nicht Chris zum Vorwurf; die Umstürzler, die das Musikbusiness auf dem Gewissen hatten, waren eine Generation älter als sein Sohn, sie waren jetzt Erwachsene. Trotzdem hatte er sich Dr. Beets Rat zu Herzen genommen, Chris nicht mehr dauernd mit dem Niedergang der Musikindustrie zu behelligen (Beets Ausdruck), sondern mit ihm Musik zu genießen, die ihnen beiden gefiel – zum Beispiel Pearl Jam, die Bennie auf der ganzen Fahrt nach Mount Vernon in voller Lautstärke laufen ließ.
    Die Stop/Go-Schwestern wohnten noch immer bei ihren Eltern unter buschigen Vorstadtbäumen in einem heruntergekommenen Haus mit schiefen Anbauten. Bennie war vor zwei oder drei Jahren schon mal da gewesen, als er die Schwestern entdeckt und ehe er sie dem ersten einer ganzen Reihe von Mitarbeitern anvertraut hatte, die nicht das Geringste für sie unternommen hatten. Als er und Chris aus dem Wagen ausstiegen, stieg durch die Erinnerung an diesen ersten Besuch in Bennie ein Zorn auf, der seinen Kopf zum Glühen brachte – warum zum Teufel war in all dieser Zeit nichts passiert?
    Sasha wartete schon vor der Tür, sie hatte nach Bennies Anruf in der Grand Central Station den Zug genommen und ihn irgendwie überholt.
    »Na, Chrisco«, sagte Sasha und wuschelte seinem Sohn durchs Haar. Sie kannte Chris schon sein Leben lang, sie hatte ihm sogar bei Duane Reade Schnuller und Windeln gekauft. Bennie warf einen Blick auf ihre Brüste; nichts tat sich. Zumindest nichts Sexuelles – er empfand eine Menge Dankbarkeit und Wertschätzung für seine Assistentin, ganz im Gegensatz zu der mörderischen Wut, die er dem Rest seiner Mitarbeiter entgegenbrachte.
    Es entstand eine Pause. Gelbes Licht fiel durch die Blätter. Bennie ließ seinen Blick von Sashas Brust zu ihrem Gesicht schweifen. Sie hatte hohe Wangenknochen, schmale grüne Augen und wogendes Haar, das je nach Monat zwischen Rot- und Lilatönen changierte. Heute war es rot. Sasha lächelte Chris an, aber Bennie merkte ihrem Lächeln an, dass sich dahinter Sorgen verbargen. Er nahm Sasha nur selten als eigenständiges Individuum wahr; abgesehen davon, dass er (anfangs aus Respekt vor ihrem Privatleben, später aus Gleichgültigkeit) vage den einen oder anderen Freund mitbekam, wusste er nur wenig von ihrem Leben. Aber als er sie jetzt vor diesem Zuhause einer Familie stehen sah, packte Bennie die Neugier: Sasha hatte an der NYU studiert, als er sie bei einem Gig der Conduits im Pyramid Club kennengelernt hatte; also musste sie jetzt mindestens dreißig sein. Warum war sie eigentlich nicht verheiratet? Wollte sie keine Kinder? Sie kam Bennie plötzlich älter vor, oder lag es nur daran, dass er ihr so selten direkt ins Gesicht sah?
    »Was ist?«, fragte sie, weil sie seinen Blick spürte.
    »Nichts, nichts.«
    »Alles okay bei dir?«
    »Alles bestens«, sagte Bennie und klopfte energisch an die Tür.
    Die Schwestern sahen fantastisch aus – wenn nicht wie soeben von der Highschool abgegangen, dann doch vom College, höchstens als hätten sie ein oder zwei Urlaubssemester genommen oder ein paar Mal den Studiengang gewechselt. Sie hatten ihre dunklen Haare aus dem Gesicht zurückgekämmt, ihre Augen funkelten, und sie hatten ein ganzes verdammtes Album voll mit neuem Material – wer sagt’s denn! Bennies Zorn auf sein Team steigerte sich, aber es war ein angenehmer, belebender Zorn. Die aufgeregte Nervosität der Schwestern übertrug sich auf das ganze Haus; sie wussten, dass sein Besuch ihre einzige, letzte Chance war. Die ältere hieß Chandra, die jüngere Louisa. Louisas Tochter Olivia war bei Bennies letztem Besuch mit einem Dreirad auf der Auffahrt
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