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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman
Autoren: Jennifer Egan
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sagte Alex. »Und was macht deine Mom so?«
    »Sie war PR -Agentin, aber sie ist aus der Branche ausgestiegen«, sagte Lulu. »Sie lebt auf dem Land.«
    »Wie heißt sie?«
    »Dolly.«
    Alex hätte diese Ausfragerei gern bis zum Augenblick von Lulus Empfängnis verfolgt, hielt sich aber zurück. Es wurde still, bis ihr Essen gebracht wurde. Alex hatte sich eine Suppe bestellen wollen, aber das wäre was für Weicheier gewesen, deshalb war er in letzter Minute auf ein Reuben-Sandwich umgestiegen und hatte ganz vergessen, dass er nicht kauen konnte, ohne Cara-Ann zu wecken. Lulu hatte ein Zitronenbaiser gewählt, sie pickte das Baiser in winzigen Bissen von den Zinken ihrer Gabel.
    »Also«, sagte sie, als Alex schwieg. »Bennie sagt, wir werden ein blindes Team bilden, mit Ihnen als anonymem Kapitän.«
    »So hat er sich ausgedrückt?«
    Lulu lachte. »Nein, das sind Marketingbegriffe. Von der Uni.«
    »Eigentlich sind das Sportbegriffe. Aus dem … Sport«, sagte Alex. Er war oft Kapitän eines Teams gewesen, aber in Anwesenheit einer so jungen Person schien das so lange her zu sein, dass es nicht richtig zählte.
    »Sportmetaphern funktionieren noch immer«, sagte Lulu nachdenklich.
    »Das ist also was Bekanntes?«, fragte er. »Das blinde Team?« Alex hatte es für seine eigene geniale Eingebung gehalten, Peinlichkeit und Schuldgefühle des Papageientums dadurch zu reduzieren, dass man ein Team zusammenstellt, das nicht weiß, dass es ein Team ist – oder dass es einen Kapitän hat. Jedes Mitglied des Teams würde einzeln mit Lulu zu tun haben, während Alex insgeheim die Strippen zog.
    »Ach sicher«, sagte Lulu. » BT s – blinde Teams – kommen vor allem bei älteren Leuten gut an. Ich meine«, sie lächelte, »Leute über dreißig.«
    »Und warum ist das so?«
    »Ältere Leute sind nicht so anfällig dafür …« Sie schien zu zögern.
    »Käuflichkeit?«
    Lulu lächelte. »Genau, das nennt man eine unaufrichtige Metapher«, sagte sie. » UM s sehen aus wie Beschreibungen, sind aber in Wirklichkeit Urteile. Ich meine, wird jemand, der Apfelsinen verkauft, denn käuflich? Verkauft sich jemand, der Geräte repariert?«
    »Nein, weil sie das ganz offen tun«, sagte Alex in dem Bewusstsein, dass er herablassend klang. »Das läuft vor aller Augen.«
    »Und genau diese Metaphern – ›ganz offen‹ und ›vor aller Augen‹ – gehören zu einem System, das wir atavistischen Purismus nennen. AP unterstellt die Existenz eines ethisch perfekten Zustandes, der nicht nur nicht existiert und niemals existiert hat, der aber meistens auch nur herangezogen wird, um die Vorurteile desjenigen zu untermauern, der diese Urteile fällt.«
    Alex spürte, wie Cara-Ann sich an seinem Hals bewegte, und er ließ ein langes, fettiges Stück Pastrami unzerkaut durch seine Kehle rutschen. Wie lange saßen sie schon hier? Länger als er vorgehabt hatte, das stand fest, aber Alex konnte dennoch dem Drang nicht widerstehen, sich vor diesem Mädchen wichtig zu machen und ihr Kontra zu geben. Ihr Selbstvertrauen kam ihm grundlegender vor als nur das Ergebnis einer glücklichen Kindheit, es war ein in den Zellen liegendes Selbstvertrauen, als wäre Lulu eine Königin in Zivil, ohne das Bedürfnis oder den Wunsch, erkannt zu werden.
    »Aha«, sagte er. »Du findest es also nicht grundsätzlich falsch, für Geld von etwas überzeugt zu sein oder es zu behaupten?«
    »Grundsätzlich falsch«, sagte sie. »Himmel, das ist ein großartiges Beispiel von verkalkter Moral. Das muss ich mir für meinen alten Lehrer in Moderner Ethik merken, Mr. Bastie, der sammelt so was. Es ist so«, sagte sie, setzte sich gerade und richtete ihre (trotz ihrer freundlichen Mimik) ziemlich ernsten Augen auf Alex. »Wenn ich überzeugt bin, dann bin ich überzeugt. Wer gibt Ihnen das Recht, meine Gründe zu bewerten?«
    »Weil es keine Überzeugung ist, wenn deine Gründe Bargeld sind. Sondern ein Scheiß.«
    Lulu guckte pikiert. Auch das war typisch für ihre Generation: Niemand griff zu Kraftausdrücken. Alex hatte wirklich Teenager ohne sichtliche Ironie Dinge wie »Scheibenkleister« oder »Menno« verwenden hören. »Das erleben wir oft«, sagte Lulu nachdenklich und musterte Alex. »Ethische Ambivalenz – das nennen wir EA  – gegenüber einer Starken Marketing-Aktion.«
    »Sag es nicht: SMA .«
    »Ja«, sagte sie. »Was in Ihrem Fall bedeutet, das blinde Team zusammenzustellen. Zuerst hat es den Anschein, als würden Sie es gar nicht tun wollen,
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