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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod
Autoren: Albert Camus
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Reihen hinter ihnen saß. Und Mersault, der auch seinerseits grüßte, glaubte bei ihm ein Lächeln zu bemerken, das um seine Mundwinkel spielte. Er setzte sich, ohne auf Marthes Hand zu achten, die sie ihm auf die Schulter legte, um mit ihm zu sprechen, und die er noch eine Minute zuvor mit Freuden wahrgenommen hätte als einen neuen Beweis der Macht, die sie ihm zuerkannte.
     
    «Wer ist das?» fragte er und wartete schon auf das völlig natürlich klingende «Wer?», das auch tatsächlich kam.
    «Du weißt genau. Dieser Mann ...»
    «Ach so», sagte Marthe ... und schwieg.
    «Nun?»
    «Du willst es unbedingt wissen?»
    «Nein», sagte Mersault.
     
    Er wendete sich leicht um. Der Mann betrachtete Marthes Nacken, ohne daß sich in seinem Gesicht irgend etwas regte. Er sah recht gut aus mit seinen schönen, sehr roten Lippen, seine etwas vorstehenden Augen aber blickten ausdruckslos. Mersault spürte, wie ihm das Blut in die Schläfen stieg. Vor seinem verdunkelten Blick hatten sich die strahlenden Farben dieser idealen Umgebung, in der er sich seit ein paar Stunden befand, plötzlich mit schmutzigem Ruß bedeckt. Niemand brauchte es ihm erst zu sagen. Er war sicher, daß dieser Mann mit Marthe geschlafen hatte, und was panikartig in Mersaults Innerem anschwoll, war der Gedanke an das, was dieser gleiche Mann sich möglicherweise sagte. Er wußte es recht gut, er, der auch seinerseits gedacht hatte: «Bilde dir nur nichts ein . . .» Bei der Vorstellung, daß dieser Mann in dieser Minute ganz bestimmte Bewegungen Marthes und ihre Art, im Augenblick der Lust den Arm über die Augen zu legen, vor sich sah, daß sicher auch er versucht hatte, den Arm wegzuziehen, um in den Augen der Frau den stürmischen Aufruhr der dunklen Gottheiten zu erkennen, fühlte Mersault, wie alles in ihm zusammenbrach, und während das Klingelzeichen im Zuschauerraum den Fortgang der Vorstellung ankündigte, quollen unter seinen geschlossenen Lidern Tränen der Wut hervor. Er vergaß Marthe, die nur der Vorwand für seine Freude gewesen und nun das lebendige Gefäß seines Zornes geworden war. Lange hielt Mersault die Augen geschlossen, bis er wieder auf die Leinwand schaute. Ein Wagen überschlug sich, und während das Orchester abrupt verstummte, drehte sich eines der Räder allein noch langsam weiter und zerrte in sein beharrliches Kreisen die ganze Schmach und Demütigung mit hinein, die in Mersaults von schwarzen Gedanken erfülltem Herzen aufgestiegen waren. Doch ein Verlangen nach Gewißheit ließ ihn seine Würde vergessen:
     
    «Marthe, ist er dein Liebhaber gewesen?»
    «Ja», sagte sie. «Aber jetzt interessiert mich der Film.»
     
    An diesem Tag fing Mersault an, für Marthe etwas zu empfinden. Er hatte sie vor ein paar Monaten kennengelernt. Ihre Schönheit und Eleganz hatten Eindruck auf ihn gemacht. In ihrem etwas breiten, aber ebenmäßigen Gesicht schimmerten goldfarbige Augen und Lippen, die so vollkommen nachgezogen waren, daß sie einer Göttin mit gemaltem Antlitz glich. Eine natürliche Einfalt, die aus ihren Augen sprach, verstärkte noch ihre abwesende, teilnahmslose Miene. Bislang hatte Mersault jedesmal, wenn er mit einer Frau zu den ersten, eine Beziehung einleitenden Gesten übergegangen war, im vollen Bewußtsein dessen, daß unglücklicherweise Liebe und Verlangen sich in gleicher Form ausdrücken, schon an den Bruch gedacht, bevor er sie noch in den Arm genommen hatte. Marthe aber war zu einem Zeitpunkt aufgetaucht, zu dem sich Mersault gerade von allem und von sich selbst befreite. Das Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit ist nur bei einem Menschen denkbar, der noch von Hoffnung lebt. Für Mersault zählte damals nichts, und das erste Mal, als Marthe in seinen Armen schwach wurde und er sah, wie sich in ihrem durch die Nähe weich wirkenden Gesicht die Lippen, bis dahin unbeweglich und gemalten Blumen gleich, belebten und ihm entgegendrängten, hatte er nicht über diese Frau hinweg schon in die Zukunft geblickt, sondern die ganze Macht seines Verlangens heftete sich an sie und sog sich mit ihrer Erscheinung voll. Die Lippen, die sie ihm darbot, schienen ihm eine Botschaft aus einer Welt, die ohne Leidenschaft und von Verlangen geschwellt war und in der sein Herz Genüge gefunden hätte. Das aber kam ihm wie ein Wunder vor. Sein Herz pochte in einer Erregung, die er fast für Liebe gehalten hätte. Und als er das volle, feste Fleisch unter seinen Zähnen fühlte, biß er sich wütend in einer Art
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