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Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Titel: Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
Autoren: Julie Leuze
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Gesicht, der sich auch nach zwanzig Minuten In-den-Spiegel-Starren nicht verflüchtigt hat.
    Unwillkürlich frage ich mich, ob dieser Ausdruck nur Fassade ist, wie die Röte meines Mundes oder die in Form gegelten Brauen. Bin ich stark, irgendwo da drinnen, an einem Ort, den ich nur noch nicht entdeckt habe?
    Oder mache ich mir etwas vor, wenn ich das glaube, genau wie ich mir etwas vormache, wenn ich mir Chancen bei Mattis Bending ausrechne? Für Vivian interessiert Mattis sich schließlich auch nicht, und die stylt sich um einiges gekonnter als ich.
    »Sophie, Abendessen ist fertig!«, höre ich meine Mutter rufen.
    Ich reiße mich von meinem fremden Spiegelbild und den unbeantworteten Fragen los. Atme ein paar Mal tief durch, gebe mir Zeit, zurück in die Rolle zu schlüpfen, die meine Eltern mir zugedacht haben. Sie passt mir wie eine zweite Haut.
    Dann ziehe ich die Zimmertür hinter mir zu und gehe nach unten ins Wohnzimmer, wo Mama und Papa mich bereits erwarten. Sie sitzen am hübsch gedeckten Esstisch, eine rosa Kerze brennt. Neugierig schauen sie mir entgegen, und ich weiß, was nun folgen wird: ein liebevoll geführtes Verhör.
    Mit einem Mal fühlt sich meine zweite Haut verdammt eng an.

Sechs
    Wir sitzen im BMW , und mein Vater versucht, ein Gespräch in Gang zu bringen. Was nicht funktioniert, da er völlig andere Dinge sagt als die, die ihm eigentlich im Kopf herumgehen.
    Zum Beispiel fragt er: »Und, freust du dich auf die Pfingstferien?«
    Dabei steht in seinen Augen klar und deutlich: »Wirst du es denn aushalten, zwei Wochen ohne den Jungen zu sein, von dem du uns gestern Abend partout nichts erzählen wolltest?«
    »Klar«, antworte ich auf die real ausgesprochene Frage und hoffe, dass er es dabei bewenden lässt. Ich habe keine Lust auf vertrauliche Vater-Tochter-Gespräche, heute Morgen genauso wenig wie gestern Abend. Kann er das nicht einfach akzeptieren?
    Papa trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad. Durch das Schiebedach scheint die Sonne, auf meine offenen, glänzenden Haare und seine Glatze. Flüchtig denke ich, dass mein Vater einer der wenigen Männer ist, denen eine Glatze steht. Vielleicht, weil der Rest von ihm gut aussieht, wenn auch auf eine ziemlich markige Art. Wäre Papa ein Schauspieler, würde er immer die Rolle des unbeugsamen Helden bekommen.
    Sein wirkliches Leben ist nicht ganz so beeindruckend. Papa arbeitet als Jurist bei einer Versicherung in München, verlässt früh das Haus und kehrt pünktlich zum Abendessen zurück, tagein, tagaus, sommers wie winters. Pendler wie ihn gibt es viele hier: Walding ist nur eine knappe Autostunde von München entfernt, aber die Mieten sind wesentlich niedriger. Aus einem einzigen Grund: Wir liegen außerhalb des Münchener S-Bahn-Bereichs. Weshalb München für die nicht Auto fahrende Bevölkerung – also auch für mich – genauso gut auf dem Mond liegen könnte.
    Während Papa gern sagt, wie froh er sei, in guter Luft und mit Blick auf den Wald zu leben, würde ich diese ganze ländliche Idylle mit Freuden eintauschen gegen Smog und Häuserschluchten. Wenn ich dafür bloß die Freiheit der Großstadt bekäme – das Gefühl, rumlaufen, fühlen und denken zu dürfen, wie ich will. Ich schaue aus dem Seitenfenster des BMW und fange an zu träumen. Davon, dass ich in einem hippen Stadtviertel wohne, zwischen Künstlern, Punks und Esoterikfans. Ich würde mich nie mehr verstellen, vor niemandem. Denn das müsste ich in der Stadt nicht: Ich wäre einfach ein Freak unter vielen.
    Mein Blick fällt auf den Außenspiegel des Autos. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich bei meinem ungewohnten Anblick erschrecke. Spitz wie Nadeln fährt mir das Dunkelgrün in die Glieder.
    Ich schüttelte leicht den Kopf, um Schreck und Grün zu vertreiben. Dabei denke ich verstimmt, dass Traum und Wirklichkeit nicht nur bei meinem Vater, sondern auch bei mir verdammt weit auseinanderklaffen: Gestern noch ein braves, unscheinbares Mädel mit Pferdeschwanz, sehne ich mich heute nach einem Leben als anerkannte Bekloppte in einem Szeneviertel. Bloß weil ich mich zum ersten Mal geschminkt und eine Haarkur benutzt habe. Ich verziehe spöttisch den Mund.
    »Sophie, ich wollte dir nur sagen, dass du mit mir über alles sprechen kannst. Okay?« Papa hat mit dem Lenkradgetrommel aufgehört und sich offensichtlich entschlossen, Klartext zu reden. »Und wenn doch ein Junge hinter deinem, äh, Outfit-Wandel steckt, was ja überhaupt nicht schlimm wäre, im Gegenteil,
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