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Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass
Autoren: Kirill Bulytschow
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Träume und Legenden wieder auferstehn, verlieh ihnen einen neuen Sinn und verband die abstrakten, ungenauen Bilder, die ihnen die Vorstellung eingegeben hatte, mit der Realität des Giganten da vorn. Diesen Widerspruch hatten die Alten nie begriffen, denn hinter der Schilderung der Katastrophe, der plötzlich einbrechenden Kälte und Finsternis, hinter dem Bericht über die leeren Korridore, in denen nach und nach das Licht verlosch, während von draußen trockene Schneeflocken hereindrangen — hinter all dem verbargen sich ganz konkrete Korridore und Lampen, das Schweigen der Hilfstriebwerke und das Ticken der Strahlungsmesser. Für die Zuhörer aber, für Oleg und seine Altersgefährten, waren bei diesen Schilderungen lediglich die Schneeflocken faßlich. Die Korridore dagegen verschmolzen in ihrer Phantasie mit dem Waldesdickicht oder einer dunklen Höhle, denn man kann sich nur das vorstellen, was man selbst gehört und gesehen hat. Deshalb begriffen sie erst jetzt, wie die Leute damals von hier aufgebrochen waren — wie sie die Kinder und Verwundeten geschleppt, in größter Hast all jene Gegenstände gegriffen hatten, die für die erste Zeit benötigt wurden, denn in diesem Augenblick vermutete niemand, daß sie den Rest ihres Lebens hier zubringen und in dieser kalten Welt sterben würden: Die gigantischen Maßstäbe und die ungeheure Macht der kosmischen Zivilisation wiegten sie selbst hier in trügerische Sicherheit, sie glaubten, alles Geschehene, und sei es noch so tragisch, bedeute lediglich eine zeitweise Unterbrechung, eine Zufälligkeit, die schon bald behoben sein würde, wie alle Unregelmäßigkeiten behoben wurden. Oder fast alle.
    Und da war auch die Luke.
Als sie damals aufbrachen, so erzählte der Alte immer, hatten sie die Luke geschlossen, die Havarieleiter, auf der sie in den Schnee hinabgestiegen waren, unter einen überhängenden Felsen getragen. Diese Stelle war auf der Karte eingezeichnet, doch brauchten sie die Leiter nicht erst zu suchen — der Schnee war weggetaut, und sie lag ganz in ihrer Nähe. Die hellblaue Farbe war hier und da abgeblättert, und als Dick die Leiter anhob, blieb ihr Abdruck als bläuliche Zeichnung auf dem Schnee zurück.
Dick klopfte mit dem Fingernagel gegen die Streben. „Sie ist leicht“, sagte er, „wir müssen sie mitnehmen.“
Er bekam keine Antwort. Marjana und Oleg standen ein Stück weg und betrachteten, den Kopf weit zurückgelegt, den gewölbten Schiffsbauch. Das Schiff schien völlig unversehrt zu sein, man hätte meinen können, im nächsten Augenblick damit weiterfliegen zu können. Und Oleg stellte sich sogar vor, wie es vom Talkessel abhob, immer schneller in den blauen Himmel stieg und zu einem schwärzlichen Kreis, zu einem Punkt im Blau wurde …
Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Sein Körper war leicht und gehorchte ihm, und die Ungeduld, so schnell wie möglich einen Blick ins Innere des Giganten zu werfen, vermischte sich mit der Angst, für immer in der abgeschlossenen Sphäre des Raumschiffs zu verschwinden.
Er schaute zur Havarieluke hinüber. Immer wieder hatte der Alte dem Jungen eingeschärft: „Diese Luke ist nicht verschlossen, merk es dir, wir haben sie nur rangezogen. Du steigst auf der Leiter zu ihr hinauf und mißt als erstes die Strahlung. Es dürfte keine Strahlung mehr vorhanden sein, immerhin sind sechzehn Jahre vergangen, aber miß trotzdem.

    Damals war sie einer der Gründe, weshalb wir so überstürzt aufbrechen mußten. Die Radioaktivität und der Frost. Vierzig Grad bei nicht funktionierender Heizung, dazu die Strahlung — wir konnten unter keinen Umständen bleiben. Obwohl der Aufbruch genauso aussichtslos schien — wir wußten ja nicht, daß wir an ein Tal gelangen würden, wo es den Wald und damit mehr Wärme gab.“
Dick schlenderte um das Schiff herum, wobei er mit der Lanzenspitze leere Kisten und Büchsen herumdrehte — es gab hier viele Dinge, die die Leute damals aus dem Schiff gebracht hatten und dann zurücklassen mußten.
„Na, was ist“, sagte Oleg, „gehn wir rein?“
„Einverstanden“, erwiderte Dick, hob die Leiter auf und lehnte sie an der Luke gegen die Bordwand. Dann stieg er als erster hinauf, steckte Thomas’ Messer in den Spalt, drückte dagegen, doch das Messer brach ab.
„Wir haben fast keine Messer mehr“, brummte Dick.
„Der Alte hat gesagt, die Luke wäre offen“, sagte Oleg.
„Ach, der hat doch schon alles vergessen“, knurrte Dick, „alten Leuten kann man nicht
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