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Der Gebieter

Der Gebieter

Titel: Der Gebieter
Autoren: Sandra Henke
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Magen. Dieses idyllische Fleckchen Erde bedeutete Heimat für sie. Als Kind war das Gut ihr zweites Zuhause gewesen, doch seit sie Cheng mit achtzehn Jahren kennenlernte und in seiner Kanzlei anfing zu arbeiten, fand sie kaum noch Zeit, bei ihren Verwandten vorbeizuschauen. Da ihre Mutter alleinerziehend war, ging diese kurz nach Naomis Geburt schon wieder arbeiten. Damals waren Carol und Bill fast so etwas wie Naomis Ersatzeltern gewesen.
    Naomi fuhr durch eine Obstplantage tiefer ins Tal hinein. Sommerwolken, die wie weiße Wattebausche aussahen, hingen über den Gipfeln der Vaca Berge, die das Weinbaugebiet St. Helena American Virticultural Area, kurz AVA, im Osten begrenzten. Die Sonne stand viel zu hoch, als dass die Mayacama Berge auf der anderen Seite des nördlichsten Weinbaugebietes des Napa Valleys hätten Schatten auf die Weinreben, die an den Hügeln wuchsen, werfen können. An diesem frühen Nachmittag musste es an die vierunddreißig Grad heiß sein.
    »Du erkältest dich noch.« Chengs lächerliche Ermahnung von vorletzter Nacht klang ihr noch im Ohr. Trotzig kurbelte sie nicht nur das Seitenfenster herunter, sondern auch das auf der Beifahrerseite, so dass der heiße Fahrtwind wie ein Liebhaber mit ihren Haaren spielte. Sie bekam eine wohlige Gänsehaut. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Der Saum ihres Sommerkleids flatterte, und der Baumwollstoff rieb sachte über ihre Brustspitzen.
    Tief sog sie den leicht süßlichen Duft in ihre Lungen ein. Soweit das Auge reichte, waren nur Obstplantagen und Weinreben zu sehen. Naomi liebte das Napa Valley mit seinem mediterranen Klima, den malerischen Ortschaften und den Weinhängen. Nur an die Stille musste sie sich jedes Mal von neuem gewöhnen. Manche Keltereien waren sogar in Villen, viktorianischen Häusern und Schlössern untergebracht. Aber die Maroon Winery war fast so alt wie die Krug Winery – Charles Krug baute 1861 als Erster Weinreben im Valley an –, weshalb sie nicht mit einem tollen Gebäude aufwarten konnte, wohl aber mit dem besten Merlot Kaliforniens.
    Bei dem Gedanken an die dunkelrote Farbe und den pflaumigen Geschmack lief Naomi das Wasser im Mund zusammen. Onkel Bill ließ die Eichenfässer, in denen der Wein reifte, extra aus Frankreich einfliegen und legte Wert darauf, dass sie aus französischer Traubeneiche hergestellt wurden. Stolz darauf, nicht wie alle anderen Weingüter im Valley Fässer aus amerikanischer Weißeiche zu benutzen, wurde er nicht müde zu wiederholen, dass sein Merlot dadurch eine unverkennbar kräftige Barrique-Note bekam. Naomi fand den Wein so köstlich, dass sie darin hätte baden können!
    Sie kam an eine Gabelung und nahm den Weg, der zum Haupthaus führte. Dort befanden sich die Wohnräume, die Büros und eine gemütliche Schänke, die jedoch nur für Weinproben genutzt wurde. Im Gegensatz zu anderen Winzern vermietete die Familie Brookstone keine Zimmer. Der Weintourismus im Napa Valley zog Millionen von Übernachtungs- und Ausflugsgästen an und war nach Disneyland die beliebteste Touristenattraktion Kaliforniens.
    Carol und William wollten kein Stück von diesem Kuchen abhaben. »Wir sind Weinbauern, keine Herbergseltern«, stellte Bill klar. Die Maroon Winery konnte es sich leisten.
    Naomi parkte ihren Ford vor dem Haus, stieg aus und reckte sich. Als sie über den Vorplatz zu der gegenüberliegenden Mauer schlenderte, wirbelte Sand auf. Sie stellte einen Fuß auf das Mäuerchen, das ihr gerade nur bis zu den Knien reichte. Dahinter befanden sich ein fünf Meter tiefer Abgrund und die Parallelstraße, die zur Kelterei führte. Da die Sonne Naomi blendete, schirmte sie ihre Augen mit der Hand ab, doch sie sah nur Arbeiter, keinen ihrer Verwandten. In dem Gebäude am Fuße des Südhangs wurden nicht nur die Trauben gekeltert und die Flaschen abgefüllt. Im Keller lagerte auch die kostbare Flüssigkeit in Eichenfässern zum Reifen.
    Naomi kehrte zum Hauptgebäude zurück, das als Wohnhaus und auch als Kommandozentrale benutzt wurde. Die Haustür stand wie immer offen. Voller Vorfreude trat Naomi ein und wäre beinahe mit Rosamar zusammengestoßen.
    » Buenas tardes , Señorita Naomi, endlich kommen Sie uns mal wieder besuchen.« Die vollen Wangen der Köchin leuchteten so rot wie die Weintrauben an den Reben. Sie balancierte die Schüssel mit Zwiebeln und Paprika auf einer Hand und wischte sich die andere an ihrer roten Küchenschürze ab, auf der mit gelbem Garn Puebla eingestickt war. Stolz strich
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