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Der fremde Sohn (German Edition)

Der fremde Sohn (German Edition)

Titel: Der fremde Sohn (German Edition)
Autoren: Sam Hayes
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mich dumm nennen dürfen.« Wieder Gelächter. Ein Pfiff. Dass Dayna Ärger machte, war ja noch nie da gewesen. Sie wurde rot und wandte den Blick ab. Dabei bemerkte sie den neuen Jungen, wie hieß er noch gleich? Er saß in seiner Ecke und beteiligte sich nicht an dem allgemeinen Gejohle. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Dayna zu erkennen, was er da trieb. Er liest, dachte sie auf dem Weg zur Tür. Er las in einem Buch, aber es sah nicht aus wie ein Mathe-Lehrbuch. Ohne den Blick von ihm zu wenden, drehte sie den Türknauf.
    Gerade als sie hinausging, hob der Junge mit dem schwarzen Haar, dem dünnen Hals und der zerrissenen Jeans den Kopf und sah Dayna direkt in die Augen. Er lächelte nicht, runzelte auch nicht die Stirn oder machte freche Bemerkungen über ihren Abgang wie die anderen. Stattdessen zwinkerte er ihr fast unmerklich zu. Dann widmete er sich wieder seinem Buch.
    »Geh mir aus den Augen, du dummes, dummes Mädchen …«, hörte Dayna im Hinausgehen die Stimme des Lehrers. Sie hatte nicht die Absicht, sich im Büro des Schulleiters zu melden, aber sie wollte auch nicht nach Hause gehen oder in den Geschäften herumlungern. Nach der Pause hatten sie Englisch, das wollte sie nicht verpassen. Sie hatte einen Aufsatz geschrieben, und außerdem wollte sie mehr über den Neuen erfahren. Seit Beginn des Schuljahrs vor einer Woche hatte er noch kein Wort mit ihr gesprochen. Sie konnte sich nicht erinnern, ob er überhaupt mit jemandem geredet hatte.
    »Ein Einzelgänger«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild in der Mädchentoilette. »Da haben wir schon was gemeinsam.«
    »Mit wem redest du denn, du Knalltüte?«, fragte eine Oberstufenschülerin, die mit ihrer Freundin hereingekommen war. Sie traten dicht an Dayna heran, die so tat, als wolle sie sich die Hände waschen. Dabei wollte sie doch nur ein wenig ungestört sein.
    »Mit niemandem«, erwiderte Dayna achselzuckend und starrte zu Boden. Sie wusste, was jetzt kam. Ihre Wangen brannten, und ihr Mund wurde ganz trocken. Fast so wie damals, als sie ihr Scheuerpulver in den Mund gestopft hatten. Weil es keine Papierhandtücher gab, wischte sie sich die Hände an der Hose ihrer Schuluniform ab. Dann bückte sie sich nach ihrem Rucksack.
    »Was haben wir denn da?« Die älteren Mädchen rissen ihr den Rucksack aus der Hand, öffneten ihn und wühlten darin herum.
    »He, gebt das her!«, rief Dayna und griff danach.
    »Nix da«, sagte die Blonde, und die beiden verschwanden mit dem Rucksack in einer Kabine, während Dayna von außen gegen die Tür trat und mit den Fäusten dagegenhämmerte.
    »Iiih, ist ja eklig!«, sagte eines der Mädchen. »Mann, guck dir das mal an.« Papier wurde zerrissen, und es klang, als würde der ganze Inhalt des Rucksacks ausgeleert. Ein paar lose Seiten aus einem teuren Buch kamen unter der Tür hindurchgeflattert.
    »Lasst das, verdammt!« Dayna kämpfte gegen die Tränen. Es gab nicht viel, das sie zum Weinen brachte, denn sie hatte gelernt, hart zu sein, alles wegzustecken und in sich hineinzufressen. Normalerweise gelang es ihr auch. Sie trat noch einmal mit voller Wucht gegen die Tür, dann kamen die beiden Mädchen wieder heraus.
    »Dreckige kleine Emo«, sagte die eine, dann gingen beide Arm in Arm davon. Ihr geglättetes Haar mit den blonden Strähnchen fiel ihnen über den Rücken.
    Dayna stellte fest, dass sie die meisten ihrer Habseligkeiten ins Klo gestopft hatten. Was nicht hineinpasste, hatten sie auf den dreckigen Boden geworfen und waren darauf herumgetrampelt. Dayna zog den Rucksack aus der Toilettenschüssel. Er war triefend nass und tropfte ihr den Pullover voll. Ein paar der Bücher – darunter das bekritzelte Mathebuch – waren rettungslos durchweicht. Der Inhalt ihres Schminktäschchens lag im Hygienebehälter, und das wenige Geld aus ihrer Börse war weg.
    »Blöde Ziegen«, schnaubte sie. Dann spürte sie, wie es losging – ein Brennen in der Brust, das sich mit jedem Herzschlag weiter in ihrem Körper ausbreitete. Sie klammerte sich am Rand eines Waschbeckens fest. »Ruhig atmen«, ermahnte sie sich selbst, als ihre Atemzüge immer flacher wurden. Der Raum begann sich um sie zu drehen. Um nicht mit dem Kopf auf die Fliesen zu schlagen, hockte sie sich auf den Boden und wartete darauf, dass ihr schwarz vor Augen wurde. So etwas passierte ihr nicht oft und nur, wenn sie bis zum Äußersten gereizt wurde.
    »Es ist gut, es ist alles gut«, murmelte sie vor sich hin. Alles erschien ihr auf einmal wie
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