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Der fremde Sohn (German Edition)

Der fremde Sohn (German Edition)

Titel: Der fremde Sohn (German Edition)
Autoren: Sam Hayes
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Goldstück ein, um sich an Ihrem Bruder zu rächen?«
    Den Rücken zur Kamera, ging sie langsam auf den jungen Mann zu. Sie war sich bewusst, dass ihr Rock schick aussah. »Wofür wollen Sie sich an ihm rächen, Jason?«, flüsterte sie, indem sie sich weit hinunterbeugte. Für das Mikro war ihre Stimme immer noch laut genug. »Ich muss sagen, das verstehe ich noch nicht recht. Wir haben den Bericht gesehen und uns bei Ihnen zu Hause davon überzeugen können, wie es in Ihrer Familie … äh … zugeht.« Eine rasche Drehung zur Kamera, ein entrüsteter Blick. »Da funktioniert überhaupt nichts, nicht wahr, Jason? Ihre Familie ist total kaputt, und Sie stehen mit Ihren sechzehn Jahren schon auf der Verliererseite.« Sie dachte an ihren eigenen Sohn, der nur ein Jahr jünger war, verscheuchte den Gedanken jedoch sofort wieder. Die Zuschauer sollten ihr keine persönliche Regung anmerken. Plötzlich brüllte sie den Jungen beinahe an: »Ist es nicht so, dass Sie im Alter von vierzehn Jahren mit der siebenundzwanzigjährigen Frau Ihres Bruders geschlafen haben?«
    Sie trat einen Schritt zurück und überließ dem Jungen die Bühne. Jetzt gab es zwei Möglichkeiten: Entweder er fing an zu heulen wie ein Baby, oder er musste sich gleich gegen seinen Bruder zur Wehr setzen, der keine zwei Meter von ihm entfernt sprungbereit auf der Kante seines Stuhls hockte.
    Seltsamerweise tat der Junge gar nichts.
    »Was wir gern wissen möchten, Jason, ist, wen der kleine Tyler denn nun Daddy nennen soll – Sie oder Ihren Bruder?«
    Wie erwartet lief ein unwilliges Raunen durchs Publikum im Studio.
    »Gut gemacht«, kam es durch ihren Ohrhörer.
    Das genügte. Der Bruder, der bisher nicht viel gesagt hatte, stürzte sich brüllend und fluchend auf Jason und stieß ihn vom Stuhl, der bewusst ein wenig kippelig konstruiert war. Carrie wartete einen Augenblick ab, ebenso wie die Sicherheitsleute, die entsprechende Anweisungen hatten. Doch so erwünscht ein Handgemenge war, zu einem Blutvergießen durfte es nicht kommen – vielleicht saßen manche der Fernsehzuschauer ja noch beim Frühstück.
    Also trat Carrie zurück, als die Sicherheitsleute auf die Bühne marschiert kamen und die beiden Brüder wieder auf ihre Plätze beförderten. »Jetzt beruhigen Sie beide sich mal«, befahl Carrie, und im Studio wurde es still. Zuerst an Jason, dann zur Kamera gewandt fügte sie hinzu: »Ich glaube, jetzt sollten wir erst einmal hören, was Bobbi-Jo dazu zu sagen hat, nicht wahr? Und dann schauen wir uns das Ergebnis des DNA -Tests an.«
    Carrie strich sich die blonde Strähne, die ihr über die Wange fiel, bewusst nicht zurück. »Hübsch«, hörte sie die Stimme des Regisseurs in ihrem Ohr und fuhr fort: »Nach einer kurzen Pause geht es weiter mit Reality Check, und dann erfahren Sie, wer nun wirklich der Vater des kleinen Tyler ist. Bleiben Sie dran.« In einer für sie typischen Geste deutete sie mit dem Finger auf ihr Auge und dann ins Publikum, als wolle sie den Leuten zu verstehen geben, dass sie beobachtet wurden und dass die Kamera jederzeit auch in ihr Leben eindringen konnte.
    »Sendepause!«, rief der Regisseur. »Zwei Minuten fünfundvierzig.«
    In Wirklichkeit waren es drei Minuten, aber sie hielten sich immer fünfzehn Sekunden früher bereit. Auch wenn man nie wusste, wie die Show verlaufen würde – Carrie war in Livesendungen wie dieser in ihrem Element. Alles war unter Kontrolle und folgte einem präzisen Plan, so, wie sie es gern hatte.
    Die Leute im Zuschauerraum scharrten mit den Füßen und tuschelten miteinander. Ohne die gescheiterten Existenzen, die ihre Studiogäste waren, weiter zu beachten, verließ Carrie die Bühne und setzte sich auf den für sie reservierten Stuhl. Sie trank einen Schluck des eigens für sie importierten Schweizer Mineralwassers, ließ sich von der Maskenbildnerin das Make-up an Wangen und Lidern auffrischen und von der Stylistin die lose Haarsträhne so befestigen, dass sie ihr bei einer bestimmten Kopfbewegung erneut ins Gesicht fallen würde.
    »Eine Minute zehn«, hörte sie über den Ohrhörer. Wie konnte sie diese kleine harte Nuss bloß knacken, bevor die Testergebnisse präsentiert wurden? Sie betrachtete den Jungen, der starr vor Angst auf der Bühne hockte. Auf der anderen Seite der Bühne hatte Bobbi-Jo Platz genommen. Dick und rotgesichtig saß sie da und konnte es kaum erwarten, sich vor laufender Kamera damit zu brüsten, dass sie einen minderjährigen Jungen verführt
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