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Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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Art aufgefallen, «sie», «die anderen» und, seltener, «die Alten» zu sagen, wenn er von den Heimbewohnern sprach, von denen manche nicht älter waren als er. Aber das war natürlich etwas anderes. Er war Pförtner und war ihnen bis zu einem gewissen Grad übergeordnet.
    In dem Moment ist die Pflegerin eingetreten. Der Abend war jäh hereingebrochen. Sehr schnell war die Dunkelheit über dem Glasdach undurchdringlich geworden. Der Pförtner hat den Schalter gedreht, und ich war vom plötzlichen Aufspritzen des Lichts geblendet. Er hat mich eingeladen, zum Abendessen in den Speisesaal zu gehen. Aber ich hatte keinen Hunger. Er hat daraufhin angeboten, mir eine Tasse Milchkaffee zu bringen. Da ich Milchkaffee sehr gern mag, habe ich angenommen, und er ist nach einer Weile mit einem Tablett zurückgekommen. Ich habe getrunken. Dann habe ich Lust bekommen zu rauchen. Aber ich habe gezögert, weil ich nicht wusste, ob ich es vor Mama tun könnte. Ich habe nachgedacht, das machte gar nichts. Ich habe dem Pförtner eine Zigarette angeboten, und wir haben geraucht.
    Irgendwann hat er gesagt: «Übrigens, die Freunde Ihrer Frau Mutter kommen auch gleich zur Totenwache. Das ist so üblich. Ich muss Stühle und schwarzen Kaffee holen.» Ich habe ihn gefragt, ob man eine der Lampen ausmachen könnte. Das Gleißen des Lichts auf den weißen Wänden ermüdete mich. Er hat gesagt, das ginge nicht. Die Anlage wäre nun einmal so: entweder alles oder nichts. Ich habe ihn nicht mehr besonders beachtet. Er ist hinausgegangen, ist wiedergekommen, hat Stühle aufgestellt. Auf einen hat er Tassen rings um eine Kaffeekanne gestapelt. Dann hat er sich mir gegenübergesetzt, auf die andere Seite von Mama. Die Pflegerin saß auch hinten, mit dem Rücken zu mir. Ich konnte nicht sehen, was sie machte. Aber der Bewegung ihrer Arme nach konnte ich vermuten, dass sie strickte. Es war mild, der Kaffee hatte mich aufgewärmt, und durch die offene Tür drang ein Duft von Nacht und von Blumen. Ich glaube, ich habe ein bisschen gedöst.
    Ein Rascheln hat mich geweckt. Weil ich die Augen geschlossen hatte, ist mir das Weiß des Raums noch greller erschienen. Vor mir war nicht ein Schatten, und jeder Gegenstand, jede Kante, alle Krümmungen zeichneten sich mit einer Klarheit ab, die den Augen wehtat. In diesem Moment sind Mamas Freunde hereingekommen. Es waren insgesamt etwa zehn, und sie huschten lautlos in dieses blendende Licht. Sie haben sich gesetzt, ohne dass ein einziger Stuhl knarrte. Ich sah sie, wie ich nie jemanden gesehen habe, und keine Einzelheit in ihren Gesichtern oder an ihrer Kleidung entging mir. Dabei hörte ich sie nicht und hatte Mühe, an ihre Realität zu glauben. Fast alle Frauen trugen eine Schürze, und das Band, das ihre Taille schnürte, ließ ihren gewölbten Bauch noch mehr hervortreten. Ich hatte noch nie bemerkt, was für einen Bauch alte Frauen haben können. Die Männer waren fast alle sehr dünn und hielten Spazierstöcke in der Hand. Was mir an ihren Gesichtern auffiel, war, dass ich ihre Augen nicht sah, sondern nur einen glanzlosen Schimmer mitten in einem Faltennest. Als sie sich setzten, haben die meisten mich angesehen und verlegen mit dem Kopf genickt, die Lippen ganz von ihrem zahnlosen Mund verschluckt, ohne dass ich erkennen konnte, ob sie mich grüßten oder ob es sich um einen Tic handelte. Ich glaube eher, sie grüßten mich. In dem Moment habe ich bemerkt, dass sie mir alle gegenübersaßen, um den Pförtner herum, und mit dem Kopf wackelten. Ich habe einen Moment lang den lächerlichen Eindruck gehabt, sie wären da, um über mich zu richten.
    Kurz darauf hat eine der Frauen angefangen zu weinen. Sie saß in der zweiten Reihe, von einer ihrer Mitbewohnerinnen verdeckt, und ich konnte sie schlecht sehen. Sie weinte stetig, in kurzen Schluchzern: Mir schien, sie würde nie aufhören. Die anderen sahen aus, als hörten sie sie nicht. Sie saßen zusammengesackt, trübsinnig und schweigend da. Sie sahen den Sarg an oder ihren Stock oder irgendetwas, aber sie sahen nur das an. Die Frau weinte immer noch. Ich war sehr verwundert, weil ich sie nicht kannte. Ich hätte gewünscht, sie nicht mehr zu hören. Ich wagte jedoch nicht, es ihr zu sagen. Der Pförtner hat sich zu ihr hingebeugt, hat mit ihr gesprochen, aber sie hat den Kopf geschüttelt, hat etwas gestammelt und mit derselben Stetigkeit weitergeweint. Der Pförtner ist dann auf meine Seite herübergekommen. Er hat sich neben mich gesetzt. Nach einer
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