Der Fluch
»Du musst zur Ruhe kommen, Rose. Das ist das Wichtigste. Vorher kannst du keine Entscheidung treffen.«
Der letzte Satz überzeugt mich. Ich muss eine Entscheidung treffen. Einen neuen Weg einschlagen. Mrs Jones kennt meine Geschichte, und das ist, als hätte ich eine Tür geöffnet, die die ganze Zeit verschlossen gewesen ist.
»Vielleicht haben Sie recht.«
»Einen Augenblick, ich hole dir einen Schluck Wasser.«
Sie lässt mich allein und kehrt mit einem Glas zurück. Einem Glas, in dem einmal Erdnussbutter war. Das Etikett ist noch vollständig erhalten.
Dann drückt sie mir einen Alu-Streifen in die Hand. »Nimm zwei von denen und du fühlst dich gleich besser.«
Ich schlucke die beiden Tabletten und trinke einige Schlucke Wasser nach. Als ich Mrs Jones die Tabletten zurückgeben will, schüttelt sie den Kopf. »Behalte sie. Vielleicht brauchst du sie später noch. Spätestens, wenn die Polizei wieder auftaucht.«
Daran will ich gar nicht denken.
»Was ist mit dem Vater?«, fragt sie.
»Er … behauptet, ich wäre einverstanden gewesen.«
Mrs Jones überlegt einige Sekunden. »Was, wenn er recht hat, Rose? Das war eine ziemlich wilde Party, oder? Du warst betrunken und du hattest Liebeskummer. Es wäre nur zu verständlich, wenn du einfach etwas Trost bei ihm gesucht hättest.«
»Was glauben Sie, wie oft ich mir das überlegt habe? Ich habe ihn sogar gefragt, wissen Sie? Am Abend meiner Abreise habe ich ihn angerufen und ihn gefragt. Aber er hat nur gelacht. Dieses Lachen … dieses Männerlachen … ich werde das nie vergessen.«
Mrs Jones zieht die Augenbraue hoch. »Sehr sicher klingst du aber nicht, dass Jayden wirklich schuld ist.«
Ich schlucke. »Ich bin es ja auch nicht«, flüstere ich. »Aber was, wenn doch? Was, wenn er so etwas noch einem anderen Mädchen antut?«
Ich versuche, mich aufzurappeln, und spüre, wie mir schwindelig wird. Mir ist plötzlich entsetzlich heiß und ich sehne mich nach frischer Luft. Meine Gedanken sind irgendwie schwer. Sie kommen nur zögernd. Etwas irritiert mich, doch ich komme nicht darauf, was es ist. Leicht benommen taumele ich zur Schiebetür, die nach draußen auf die Galerie führt. Ich brauche einen klaren Kopf.
Ich mache einen Schritt nach vorne. Meine Beine drohen, unter mir wegzuknicken, und ich lehne mich gegen das Geländer, halte mich fest, als ein Windstoß mich ins Schwanken bringt.
Aber es ist heute völlig windstill im Tal.
Ich sehe über das Geländer in die Tiefe. Noch immer liegt das Gebäude im Dunkeln. Am Sonntag finden keine Vorlesungen statt. Die Studenten, die auf dem Campus geblieben sind, schlafen aus.
Ich höre Mrs Jones’ Stimme jetzt nur noch von Weitem.
»Du musst dir wirklich überlegen, ob du stark genug bist, Jaydens Leben mit diesem Prozess zu zerstören. Das liegt in deiner Verantwortung. Denn Rose«, ihre Stimme wird ganz sanft, »willst du wirklich ein weiteres Leben auf dem Gewissen haben?«
Und da weiß ich plötzlich, was nicht stimmt.
Jayden.
Die Letzte, die diesen Namen laut ausgesprochen hat, war Muriel. Ich habe ihn seit dieser Party nie wieder so genannt. Egal, mit wem ich gesprochen habe, ich habe ihn einfach auf seine Initialen reduziert.
J. F.
Woher weiß Mrs Jones also, dass J. F. Jayden ist?
Erst begreife ich nichts. Wo ist der letzte Gedanke hin? Mein Blick fällt auf Mrs Jones’ Mund, der etwas sagt, was ich nicht verstehe. Genauso wenig verstehe ich den Ausdruck in ihren Augen. Aber aus diesem Mund habe ich den Namen Jayden gehört und in diesen zusammengekniffenen Augen … es ist Wut, was ich darin lese. Oder etwas Stärkeres. Hass. Sekunden vergehen. Ich klammere mich an das Geländer hinter mir und ein kalter Schauer überläuft mich.
»In Wirklichkeit geht es doch nur um dich selbst. Darum, dass du mit der Schuld nicht leben kannst, dass dein Kind gestorben ist. Du bist zu schwach dazu. Und indem du Jayden hinter Gitter bringst, wird alles wieder gut, denkst du?«
Warum lacht sie? Es ist nicht lustig.
Sie kommt auf mich zu. Stellt sich neben mich an das Geländer. Legt ihre Hand in meinen Nacken und drückt ihn nach unten, zwingt mich, in den Abgrund zu schauen.
Vier Stockwerke unter mir liegt der vertraute Weg über den Campus. Über der Rasenfläche schwebt ein Hauch von silbernem Dunst. Regentropfen glitzern in den Bäumen.
Wie friedlich das aussieht. Fast schon idyllisch.
Aber das Tal täuscht. Wie immer.
»Sieh nach unten, Rose. Nur einen Schritt und du kannst zu deinem
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