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Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)

Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)

Titel: Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Autoren: Michaela Huber
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Oder: „Du schlägst derart um dich – komm, ich setze mich neben dich und du sagst mir mal, was dich wirklich so zornig macht.“ Aufmerksame und mitfühlende PädagogInnen, NachbarInnen, Familienmitglieder scheuen sich nachzufragen, weil sie Angst vor den Eltern haben, Angst, sich etwas „ans Bein zu binden“, mit dem sie nicht fertig werden. Und die jungen Menschen tun sehr lange so, als sei nichts. Auch vor sich selbst.
    Nur den Dingen keine Namen geben, sich durchschlängeln, irgendwie durchkommen, sehr lange. Und wenn sie zusammenbrechen oder immer mehr ausrasten, verweigern ihnen die Institutionen die Hilfe: Es gibt viel zu wenige, vor allem längerfristige, pädagogische sowie Beratungs- und Psychotherapiemöglichkeiten. Wenn KlientInnen nicht selbst zahlen können – und viele fallen einfach über kurz oder lang aus dem bezahlten Berufsleben heraus –, dann verweigern die Krankenkassen sehr oft und sehr lange die Behandlung. Ambulant gibt es – wenn man das Glück hat, in Deutschland eine Kassen-PsychotherapeutIn zu finden – maximal 80 bis 100 Stunden Psychotherapie. Das sind zusammen genommen zwei- bis zweieinhalb Arbeitswochen; für eine Kindheit und Jugend, oft auch noch eine gegenwärtige Situation voller Schrecken und Gewalt ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Zumal es bei schwer bindungs-traumatisierten Menschen lange dauern kann, bis überhaupt ein ausreichend sicheres Vertrauensverhältnis aufgebaut ist, um eine tiefere psychotherapeutische Arbeit beginnen zu können.
    Wenn man dann eine Therapie begonnen hat, müsste man dranbleiben können, denn zunächst geht es den Menschen oft gar nicht so gut: Alles „kommt raus“. Wenn erst einmal jemand zuhört und dem Leid einen Raum gibt, dann quillt es geradezu aus dem verzweifelten Menschen heraus. Und wenn der Geist erst einmal aus der Flasche ist – wer will ihn wieder hineinstopfen? Und doch müssen die Rat- und Hilfesuchenden genau das immer wieder tun: Ihr Leid wieder hinunterstopfen, ihre Tasche packen und gehen. Weil die Stunde (oder die pädagogische / therapeutische Maßnahme) zu Ende ist. Weil die Kasse nicht mehr zahlt. Weil die wenigen Wochen (heute manchmal weniger als sechs Wochen!) bewilligter stationärer Therapie zu Ende sind. Weil die TherapeutIn in Urlaub oder krank ist. Weil man kein Geld für die Fahrkarte hat. Weil man manchmal nicht mal aus dem Bett kommt vor Verzweiflung oder sich – wenn man sehr dissoziativ ist – im inneren Grabenkrieg so verheddert, dass man den Therapietermin „vergisst“ oder sich so aufführt, dass man weggeschickt wird (etwa wenn man dann kommt, wenn die TherapeutIn da schon jemand anderen sitzen hat, oder indem man völlig betrunken oder voll mit Drogen oder in einem akut suizidalen Zustand ankommt).
    1.3 Defizite im Gesundheitswesen
    Weiter: Es gibt die unselige evidenzbasierte Medizin auch im Bereich der Psychotherapie. Was nicht doppelblindgetestet sich für alle Menschen in allen ähnlichen Situationen als effizient herausgestellt hat, wird nicht bezahlt. Was für ein Blödsinn! Als ob sich ein Mensch – ein Universum von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Handlungsimpulsen, Erfahrungen, sozialen Situationen –, was seine / ihre seelische Entwicklung angeht, in das Prokrustesbett solcher Gleichmacherei pressen ließe. Dabei hat jede Psychotherapie-Wirkungsstudie, seitdem es solche überhaupt gibt, immer wieder ergeben, dass der wichtigste Wirkfaktor überhaupt in einer Psychotherapie – ebenso wie in jeder pädagogischen Maßnahme die Beziehung ist (siehe Grawe et al. 2003; Eirund et al. 2009). Internationale Psychotherapieforscher haben das so formuliert: „Etwa 85 % der Wirkung von Psychotherapie sind auf Beziehungsvariablen zurückzuführen und nur 15 % der Technik geschuldet“ (Lambert et al. 1983).
    Bei frühen Bindungs-Traumatisierungen muss die therapeutische Beziehung langfristiger und verlässlicher als bei allen anderen Hilfesuchenden sein, damit ein tragfähiges therapeutisches Arbeitsbündnis überhaupt zustande kommt. Langfristig aber wollen die Krankenkassen, wollen die Sozialsysteme keine Behandlung mehr zahlen, da es immer mehr schwer seelisch verletzte Menschen gibt, die nicht mehr sozial eingliederungs- bzw. arbeitsfähig sind. Außerdem werden immer mehr Kliniken privatisiert. Von daher sind sowohl die ambulanten wie die stationären Therapien einem Gewinnstreben und einem Effizienzdenken ausgesetzt, die zynischste Kosten-Nutzen-Rechnungen enthalten.
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