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Der falsche Freund

Titel: Der falsche Freund
Autoren: Nicci French
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bliebe leider keine Zeit mehr für einen Kaffee … Dann folgte eine lange Abschiedsprozedur. Kerry nahm mich fest in den Arm, Brendan küsste mich wieder knapp neben den Mund, und ich widerstand dem Drang, die feuchte Stelle mit dem Handrücken abzuwischen. Beide meinten, wir müssten das unbedingt bald wiederholen, und dankten mir, weil ich mich so großartig verhalten hätte; das sei so lieb von mir, einfach wunderbar.
    Brendan begleitete mich zur Tür.
    »Es hat geregnet«, bemerkte er.
    Ich ignorierte seine Worte.
    »Wirklich ein unglaublicher Zufall«, sagte ich.
    »Was?«
    »Ich trenne mich von dir, und ein paar Tage später triffst du meine Schwester auf der Straße, und schon seid ihr zusammen.
    Kaum zu glauben.«
    »Es gibt im Leben keine Zufälle«, entgegnete Brendan.
    »Vielleicht ist es gar nicht so überraschend, dass ich mich in eine Frau verliebt habe, die aussieht wie du.«
    Ich sah über Brendans Schulter zu Kerry hinüber, die noch am Tisch saß. Sie lächelte nervös und drehte dann den Kopf weg.
    Als ich mich wieder an Brendan wandte, bemühte ich mich, ebenfalls zu lächeln, damit unsere Unterhaltung auf Kerry einen freundlichen Eindruck machte.
    »Soll das irgendeine seltsame Art von Scherz sein, Brendan?«
    Er wirkte verblüfft und ein bisschen beleidigt.
    »Ein Scherz?«
    »Kann es sein, dass du nur mit meiner Schwester spielst, um es mir auf diese Weise heimzuzahlen?«
    »Das klingt ganz schön egozentrisch«, antwortete Brendan,
    »wenn du mir die Bemerkung erlaubst.«
    »Tu ihr bloß nicht weh«, sagte ich. »Sie hat es verdient, glücklich zu sein.«
    »Verlass dich auf mich. Ich weiß genau, was ich tun muss, um sie glücklich zu machen.«

    Ich konnte seine Gegenwart keine Sekunde länger ertragen.
    Draußen atmete ich erst mal tief durch. Die kalte Luft tat mir gut. Während ich durch die nassen Straßen nach Hause marschierte, gingen mir immer wieder dieselben Fragen durch den Kopf. Hatte er sich ernsthaft in Kerry verliebt? Spielte es wirklich eine Rolle, wie sie sich kennen gelernt hatten? Ich beschleunigte mein Tempo, bis meine Beine von der Anstrengung schmerzten.

    Ich denke oft über die Rollenverteilung innerhalb der Familie nach, über den Unterschied, den es für einen selbst macht. Wäre ich ein anderer Mensch geworden, wenn ich das älteste Kind gewesen wäre? Wie wäre es Kerry ergangen, wenn sie statt meiner die Mittlere gewesen wäre? Wäre sie dann selbstbewusster und extrovertierter geworden, mehr so wie ich –
    beziehungsweise wie die Person, die meine Familie in mir sah?
    Und Troy, das Baby der Familie, der neun Jahre nach mir kam?
    Was hätte es für ihn bedeutet, wenn er nicht diese Sonderstellung als Nachkömmling und offensichtlicher Unfall eingenommen hätte? Oder wenn er zumindest Brüder gehabt hätte, die ihm hätten zeigen können, wie man mit dem Fußball schießt, seine Fäuste gebraucht und brutale Computerspiele spielt, statt zwei Schwestern, die ihn als Kleinkind verhätschelten und später ignorierten?
    Aber wir mussten mit dem zurechtkommen, was uns gegeben worden war. Kerry war als die Erste gezwungen gewesen, die Rolle der Anführerin zu übernehmen, auch wenn sie diese Rolle hasste. Und ich als die Zweite hatte es kaum erwarten können, erwachsen zu werden, und war immer erpicht darauf gewesen, die Erste zu sein, hatte immer versucht, meine Schwester zur Seite zu drängen, um sie zu überholen. Und Troy war als der Dritte und einzige Junge in vieler Hinsicht der Letzte, andererseits aber auch fast schon wieder der Erste: schmalschultrig, verträumt, weltfremd, seltsam.

    In meiner Wohnung angekommen, ging ich gleich ins Bett.
    Obwohl ich am nächsten Tag früh rausmusste, konnte ich eine ganze Weile nicht einschlafen. Ich wechselte immer wieder die Position und wendete das Kissen, um eine kühlere Stelle zu finden. Es gab in meiner Wohnung kein Foto von Kerry, aber da ich Brendans Geschichte sowieso nicht geglaubt hatte, spielte dieses Detail im Grunde keine Rolle. Er hatte sich an Kerry herangemacht, weil sie meine Schwester war. Aus einem gewissen Blickwinkel betrachtet, hatte das sogar etwas Romantisches.

    4. KAPITEL
    Als ich am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause fuhr, schienen die Gebäude im Nieselregen zu schwanken, und die Skyline der Stadt wirkte weich und verschwommen. Im Sommer wäre es um diese Zeit noch hell gewesen, aber nun zogen die Leute bereits die Vorhänge zu und schalteten das Licht an. In meiner Wohnung befreite ich
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