Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der falsche Freund

Titel: Der falsche Freund
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
wissen möchten, warum Sie einen bestimmten Brief nicht einwerfen sollten, wird Ihnen der Grund genau in dem Moment klar werden, in dem Daumen und Zeigefinger den Umschlag loslassen. Als ich den Brief an Naomi auf die anderen Briefe fallen hörte, wurde mir schlagartig bewusst, dass es eine weitere Möglichkeit gab, die ich nicht bedacht hatte. Bei Brendan war das meistens der Fall.
    Ich war davon ausgegangen, dass Naomi den Brief ungelesen wegwerfen oder aber lesen und den Inhalt für sich behalten würde. In beiden Fällen würde ich nichts hören. Sie konnte ihn natürlich auch Brendan weitergeben, der ihn dann seinerseits an die Polizei leiten würde, sodass ich in ein, zwei Tagen sehr unangenehmen Besuch von Beamten bekommen konnte.
    Jetzt aber fiel mir noch eine weitere Möglichkeit ein. Naomi würde den Brief Brendan geben, aber der würde ihn nicht an die Polizei weiterleiten, sondern ihn lesen und erkennen, dass ich unbelehrbar war. Zu Naomi würde er sagen, dass es sich nicht lohne, deswegen etwas zu unternehmen, aber insgeheim würde er beschließen, dass sehr wohl etwas geschehen müsse.
    Ich blieb fünfundvierzig Minuten neben dem Briefkasten stehen, bis ein roter Lieferwagen anhielt und ein Postbeamter mit einem großen grauen Leinensack ausstieg. Ich erklärte ihm, dass ich versehentlich einen falschen Brief eingeworfen hätte, den ich unbedingt zurückhaben müsse. Er löste einen Riegel an der Seite des säulenförmigen Briefkastens und leerte Dutzende von Briefen in seinen Sack. Dann sah er mich an, wie mich in letzter Zeit so viele Menschen angesehen hatten – als wäre ich wahnsinnig –, und schüttelte den Kopf.

    39. KAPITEL
    »Hallo! Miranda?«
    Seine Stimme schallte durchs Treppenhaus, und dann hörte ich seine Schritte. Er nahm jeweils zwei Treppenstufen auf einmal.
    Ich strich noch ein letztes Mal vorsichtig mit dem Glanzlack über die Fußleiste, dann legte ich den Pinsel auf dem Deckel des Farbkübels ab.
    »Die Farbe ist noch feucht«, warnte ich ihn, als er zur Tür hereinkam. Er war gerade damit beschäftigt, seine Krawatte zu lockern. »Bitte fass nichts an.« Ich stand auf und ging durch den leeren Raum auf ihn zu.
    »Nur dich«, antwortete er. Er legte die Hände auf meine schmerzenden Schultern und küsste mich hingebungsvoll. Ich spürte, wie sich meine verspannten Muskeln langsam lösten, und dachte dabei: Wie ist es nur möglich, sich gleichzeitig erregt und geborgen zu fühlen, jemanden so gut zu kennen und trotzdem das Gefühl zu haben, dass es da noch eine Menge zu entdecken gibt?
    »Na, läuft’s bei dir heute gut?«, fragte ich.
    »Das Beste ist, dass ich ganze fünfzig Minuten Zeit habe, bevor ich wieder zurück in die Arbeit muss. Ich habe uns ein paar Sandwiches mitgebracht.«
    »Können wir uns damit noch ein bisschen Zeit lassen?«
    Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn eine schmale Treppe in den Speicher hinauf, vorbei an frisch gestrichenen Wänden und noch unbehandelten Brettern. Der kleine Raum dort diente mir im Moment als Schlafzimmer. Unter dem Fenster lag eine Matratze, und meine Kleidung war in Holzkisten gestapelt.
    Während ich Don Jacke und Krawatte abnahm, knöpfte er meinen Overall auf, und wir grinsten uns an wie zwei Idioten, weil wir an einem ganz normalen Mittwochmittag hier im Speicher standen und im Begriff waren, in einem leeren Haus Liebe zu machen. Durch die Jalousie fiel Licht. Ich hängte seinen Anzug ordentlich über einen Bügel. Er warf meinen farbverschmierten Overall in eine Ecke des Raums.

    »Ich würde am liebsten den ganzen Tag hier bleiben«, erklärte ich ein wenig später und streckte mich genüsslich auf meiner Matratze aus, während Don sich neben mir auf einen Ellbogen stützte und über mein Haar streichelte.
    »Gegrilltes Gemüse mit Mozzarella oder Bauern-Cheddar mit Pickles?«
    »Von jedem die Hälfte?«
    »Einverstanden.«
    »Lass sie uns in der Küche essen, dann kann ich dir zeigen, was ich geschafft habe, seit du das letzte Mal hier warst.«
    Ich hatte versucht, meinen Wohnsitz von London aufs Land zu verlegen. Ich hatte alle Brücken hinter mir abgebrochen, Bills Firma verlassen, in Rekordzeit meine Wohnung verkauft und meine Sachen eingelagert. Gleichzeitig hatte ich alle Leute angeschrieben, die ich in der Branche kannte, erste unverbindliche Gespräche geführt und all meine Optionen in Betracht gezogen. Als potenzielle Orte für meinen Neuanfang hatte ich Wales und Lincolnshire in Betracht gezogen und ein paar
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher