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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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Seziersaal. Leinen konnte nicht sprechen,er verabschiedete sich nicht. Einer der beiden Beamten trug ein blau-weiß gestreiftes Hemd. Leinen starrte auf das Hemd und begann, die Streifen zu zählen. Er sah nichts als das Hemd, er folgte den Streifen, bis er draußen war. Dann stand er auf der Treppe vor dem Backsteingebäude der Gerichtsmedizin, die Mittagshitze traf ihn wie ein Schlag. Er tastete nach dem silbernen Zigarettenetui in seiner Jackentasche. Es war kalt, und es war wirklich. Er zündete sich eine Zigarette an, seine Hände zitterten. Reimers stellte sich neben ihn und sagte irgendetwas. Leinen konnte ihn erst nach ein paar Sätzen verstehen:
    »… die Sache scheint eindeutig zu sein: Alle Schüsse von hinten oben. Vermutlich der erste, während er kniete, die anderen, während er lag. Keinerlei Abwehrspuren, das Opfer muss arglos gewesen sein. Tut mir leid, Herr Leinen, aber bisher läuft alles auf eine Mordanklage raus.« Reimers hatte sein Jackett ausgezogen und die Ärmel hochgekrempelt. Sein Hemdkragen hatte sich dunkel gefärbt. »Mein Gott, ist das heiß«, sagte er.
    »Ja«, sagte Leinen. Sein Mund war trocken, seine Zunge pelzig.
    »Sprechen Sie doch mal mit Ihrem Mandanten, vielleicht will er doch aussagen. Meistens ist es in so einer Situation besser.«
    »Mache ich, danke.«
    Leinen ging zu seinem Wagen. Ein Lieferfahrzeug versperrte die Parklücke. Er setzte sich auf die warmen Schieferplatten eines Toreingangs in den Schatten. Es war still hier. Der Blütenstaub einer Kastanie hatte Trottoir und Rasen rot gefärbt, das Licht brach sich über dem heißen Asphalt und die Straße spiegelte den Himmel wie eine Wasserfläche. Ich kann das Schild vor der Kanzlei einfach wieder abhängen und alles vergessen, dachte Leinen.

7
    Um siebzehn Uhr klingelte Leinen bei der Kanzlei Mattinger. Der Empfang für die Besucher war im sogenannten Berliner Zimmer untergebracht, einem großen Raum mit nur einem Fenster, der Vorderhaus mit Seitenflügeln und Rückgebäude verband. Eine der Sekretärinnen sagte Leinen, er solle gleich zu Herrn Mattinger durchgehen, er erwarte ihn bereits. Leinen klopfte an seine Tür, wartete, hörte nichts und betrat das Zimmer.
    Der Raum war dunkel, kaum größer als Leinens Zimmer, ein einfacher Schreibtisch, ein Holzstuhl mit Armlehnen hinter dem Tisch, keine Besucherstühle, eine gelbe Lampe, ein schwarzes Telefon mit Wählscheibe. Die Wände waren mit Mahagoni verschalt, an den Seitenwänden waren Bücherregaleeingelassen, vor beiden Fenstern hingen breite Holzjalousien. Das Zimmer sah aus wie ein Büro aus den Zwanzigerjahren. Eine große Zigarrenkiste stand auf dem Schreibtisch, schwarzes Holz mit hellen Intarsien. Mattinger hatte die Füße auf dem Tisch und döste, seine Krawatte war verrutscht, Speichel lief aus seinem rechten Mundwinkel. Vor ihm lagen ein paar rote Akten, Leinen konnte auf den Namensschildern sehen, dass sie anderen Anwälten in der Kanzlei zugeordnet waren. Mit einem Ruck erwachte Mattinger, sah Leinen, wischte sich über den Mund und stand auf. »Wie geht es Ihnen, Herr Leinen?«, fragte er. Er roch nicht nach Alkohol, aber er hatte die süßliche Ausdünstung eines Mannes, der ständig zu viel trinkt. »Sie sehen müde aus.«
    »Danke, Sie sind schon der Dritte, der das heute sagt.«
    »Dann stimmt es wahrscheinlich. Kommen Sie, hier ist es zu eng. Wir setzen uns auf den Balkon.«
    »Ihr Zimmer gefällt mir.«
    »Ich habe es vor dreißig Jahren bei der Sanierung eines Gebäudes auf dem Kurfürstendamm gekauft und hier einbauen lassen. Es soll einem bekannten Notar gehört haben.«
    »Es ist herrlich.«
    »Vielleicht ein wenig zu dunkel«, sagte Mattinger. »Aber ich habe mich daran gewöhnt.«
    Sie gingen durch zwei große Besprechungszimmer zum Balkon und setzten sich auf die hellen Bastmöbel unter einer Markise. Es hatte geregnet, die Straße dampfte.
    Mattinger ging in den Besprechungsraum, Leinen hörte, wie er im Sekretariat Getränke bestellte. Als er zurückkam, zog er aus seinem Jackett ein Zigarrenetui, es war aus Leder und abgegriffen. In seinem Nadelstreifenanzug sah Mattinger selbst aus wie ein Mann der Zwanzigerjahre.
    »Rauchen Sie Zigarre? Nein? Schade.« Aus der Westentasche holte er einen Zigarrenbohrer, drehte ihn langsam in den Kopf der Zigarre und zog die Tabakreste mit ihm heraus. Mit einem überlangen Streichholz zündete er die Zigarre an. Er musste alles mit einer Hand machen, aber nichts wirkte kompliziert. »Ich habe mich
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