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Der Fall Charles Dexter Ward

Titel: Der Fall Charles Dexter Ward
Autoren: H. P. Lovecraft
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überrascht, bevor er Schaden anrichten konnte. Eine leere Stelle neben dem Familiengrab der Wards wies Spuren von leichten Spatenstichen auf, doch offenbar wurde weder versucht, ein Grab auszuheben, noch war ein bestehendes Grab in Mitleidenschaft gezogen.Hart, der zur Beschreibung des Täters nur angeben kann, daß es sich um einen kleineren Mann handelte, der wahrscheinlich einen Vollbart trägt, neigt zu der Auffassung, daß ein Zusammenhang zwischen allen drei Vorfällen besteht; die Beamten von zweiten Revier sind anderer Meinung, und zwar wegen der ungleich ernsteren Natur des zweiten Vorfalls. Damals war ein sehr alter Sarg ausgegraben und der Grabstein gewaltsam zerstört worden.
    Der erste Vorfall, bei dem wahrscheinlich ein Versuch, etwas zu vergraben, vereitelt wurde, ereignete sich im März letzten Jahres; als Täter vermutete man Schmuggler, die ein Versteck suchten. Sergeant Riley äußerte, es sei möglich, daß dieser dritte Fall ähnliche Hintergründe hat. Die Beamten des Zweiten Reviers wollen alles daransetzen, die gewissenlosen Elemente zu fassen, die diese wiederholten Freveltaten begangen haben.
    Den ganzen Donnerstag ruhte Dr. Willett sich aus, so als müsse er sich von einer vergangenen Anstrengung erholen oder Kräfte für eine bevorstehende Aufgabe sammeln. Am Abend schrieb er einen Brief an Mr. Ward, der am nächsten Morgen zugestellt wurde und den halb benommenen Vater in langes, angestrengtes Grübeln versinken ließ. Mr. Ward war seit dem Schock des vergangenen Montags mit seinen verblüffenden Berichten und der unheimlichen »Säuberung« nicht in der Lage gewesen, seinen Geschäften nachzugehen, doch in gewisser Weise beruhigte ihn der Brief des Doktors, trotz der Verzweiflung, die er anzukündigen, und trotz der neuen Mysterien, die er zu beschwören schien.
    Lieber Theodore!
    Ich glaube, ich muß Ihnen ein paar Zeilen schreiben, bevor ich das tue, was ich mir für morgen zu tun vorgenommen habe. Zwar wird damit die furchtbare Sache, die wir durchgemacht haben, ein Ende finden (denn ich ahne, daß wahrscheinlich nie ein Spaten jenen ungeheuerlichen Ort erreichen wird, von dem wir wissen), doch ich fürchte. Sie würden trotzdem Ihren Seelenfrieden nicht wiederfinden, wenn ich Ihnen nicht ausdrücklich erkläre, daß dies der unwiderrufliche, endgültige Schluß sein wird.
    Sie kennen mich, seit Sie ein kleiner Junge waren, und deshalb glaube ich. Sie werden mir nicht mißtrauen, wenn ich Ihnen sage, daß manche Dinge besser ungelöst und unerforscht bleiben. Es ist besser, wenn Sie nicht weiter über Charles' Fall nachzugrübeln versuchen, und es ist beinahe unumgänglich, daß Sie seiner Mutter nicht mehr mitteilen, als sie ohnehin schon vermutet. Wenn ich Sie morgen besuche, wird Charles entkommen sein. Das ist alles, was wir im Gedächtnis behalten sollten. Er war geistesgestört, und er entkam. Über die Geisteskrankheit können Sie seine Mutter nach und nach behutsam aufklären, sobald Sie ihr nicht mehr die mit Maschine geschriebenen Mitteilungen in seinem Namen schicken. Ich würde Ihnen den Rat geben, sie in Atlantic City aufzusuchen und sich selbst eine Weile auszuruhen. Gott weiß, daß Sie das nach diesem Schock genauso nötig haben wie ich selbst. Ich fahre für ein paar Wochen in den Süden, um meine Ruhe und meine Kräfte zurückzugewinnen.
    Stellen Sie mir deshalb keine Fragen, wenn ich morgen zu Ihnen komme. Es kann sein, daß etwas schiefgeht, aber in diesem Fall werde ich Sie unterrichten. Es wird keinen Anlaß zur Beunruhigung mehr geben, denn Charles wird in Sicherheit sein - absolut in Sicherheit. Er ist es jetzt schon - mehr, als Sie sich träumen lassen. Sie brauchen sich nicht vor Allen zu fürchten und sich keine Gedanken darüber zu machen, wer oder wo ist er. Er gehört ebenso sehr der Vergangenheit an wie Curwens Bild, und wenn ich an der Haustür klingle, können Sie sicher sein, daß es diese Person nicht mehr gibt. Und das Wesen, das jene Botschaft in Minuskelschrift verfaßte, wird niemals Sie oder die Ihren belästigen.
    Doch Sie müssen sich gegen die Schwermut wappnen und Ihrer Frau helfen, dasselbe zu tun. Ich muß Ihnen offen sagen, daß Charles' Entkommen nicht bedeutet, daß er Ihnen wiedergegeben wird. Er hat sich eine eigenartige Krankheit zugezogen, was Sie sicherlich schon aufgrund der merkwürdigen physischen wie auch geistigen Veränderungen an ihm vermutet haben, und Sie dürfen nicht hoffen, ihn wiederzusehen. Nur diesen Trost kann ich
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