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Der Esper und die Stadt

Der Esper und die Stadt

Titel: Der Esper und die Stadt
Autoren: Katherine McLean
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fahren, kommt es zu einem Verkehrsstau. Man vergleicht diesen Tag dann mit anderen wolkigen Tagen, an denen die gleichen Temperaturen herrschten und versucht rauszukriegen, was dafür verantwortlich ist. Manchmal ist es ein Betriebsausflug, aber manchmal ist es auch ein einzelner Mensch, der an den Strand geht, und tausend andere Leute aus der ganzen Stadt, Leute, die ihn nicht einmal kennen, lassen sich plötzlich entschuldigen, verschieben Termine und gehen ebenfalls an den Strand. Manchmal kommen sie zur gleichen Zeit dort an, verstopfen die U-Bahnen für eine Stunde und geben den Leuten von der Verkehrskontrolle eine harte Nuß zu knacken.“
    „Geht es um einen Klub?“ Ich gab mir alle Mühe herauszufinden, was er meinte, aber ich verstand einfach nicht, was das miteinander zu tun hatte.
    „Nein“, sagte Ahmed. „Die Leute kennen sich nicht mal. Man hat das überprüft. Die Verkehrsexperten müssen aber im voraus wissen, was auf sie zukommt. Sie haben damit angefangen, die Namen dieser Leute zu sammeln, und dabei hat man herausgefunden, daß die meisten, die in diesen Wogen kommen, Arbeiter mit einem IQ unter hundert sind, aber dennoch irgendwie mit ihrem Leben zurechtkommen. Es hat den Anschein, als würden sie von einem Mann kontrolliert, der sich in ihrer Mitte befindet und einen Grund hat, bestimmte Schritte zu tun. Die Leute von der Statistik nennen diesen Menschen in der Mitte einen Archetyp. Das ist ein altes griechisches Wort. Ein Original, nach dem alle anderen Leute gefertigt sind. Ein echter Mensch unter tausend Echos.“
    Der Gedanke, daß es Leute gab, die nur Echos waren, behagte mir nicht. Es erschien mir beleidigend, jemanden ein Echo zu nennen. „Sie müssen sich irren“, sagte ich.
    „Hör zu …“ Ahmed beugte sich wieder vor. Seine Augen leuchteten. „Sie glauben, daß sie recht haben. Ein Mensch und tausend Echos. Man hat die Vergangenheit derjenigen überprüft, von denen man glaubt, daß sie die Menschen in der Mitte sind. Bei den Archetypen handelt es sich um gewöhnliche, energische Leute, die ein ganz durchschnittliches Leben führen. Solange das Leben eines Archetypen normal verläuft, verhält er sich auch normal – und alle, die von ihm kontrolliert werden, benehmen sich nicht anders. Kapiert?“
    Ich hatte es weder kapiert, noch gefiel mir das, was er sagte. „Ein durchschnittlicher gesunder Mensch ist ein guter Kerl. Er würde überhaupt niemanden kontrollieren wollen“, sagte ich, obwohl ich wußte, daß ich das Bild damit überzuckerte. Menschen können schlimm sein. Sie lieben es, über andere Macht zu haben. „Hör mal“, sagte ich, „manche Menschen lassen sich eben gerne leiten. Könnte es sein, daß sie irgendwelchen Ratschlägen folgen?“
    Ahmed lehnte sich zurück und zupfte an seinem Kinn. „Das paßt. Was du meinst ist Anleitung per ESP. Vielleicht weiß der Archetyp gar nicht, daß er sendet. Er tut nur das, was der Durchschnittsmensch tun möchte. Erklärt die gleichen Probleme – und zwar noch besser. Er sendet laute, nette, einfache Gedanken, denen die anderen leicht zuhören, wenn die das gleiche Leben fuhren und die gleichen Probleme haben. Möglicherweise haben mehr als die Hälfte der Bevölkerung mit einem 10 unter hundert den telepatischen Empfang gelernt und lassen die Archetypen für sich denken.“
    Ahmed wurde immer aufgeregter. Seine Augen saugten sich an dem Bild fest, das er in seinem Kopf sah. „Vielleicht wissen die Leute, die ihr Leben von den Archetypen bestimmen lassen, nicht einmal, daß sie auf die Gedanken eines anderen reagieren. Sie entdecken nur, daß sich in irgendeiner Ecke ihres Bewußtseins etwas tut, das ihnen ihre Probleme bewußt macht. Ist dir schon mal aufgefallen, daß der Durchschnittsmensch glaubt, Nachdenken sei gleichbedeutend mit Stillsitzen und in die Ferne starren, wobei man das Kinn auf die Hand stützt, als würde man einer fernen Musik lauschen? Manchmal bekommt man auch zu hören: ‚Wenn zuviel Lärm herrscht, kann ich meinen eigenen Gedanken nicht mehr folgen.’ Aber wenn ein Intellektueller, ein wirklicher Denker, nachdenkt …“ Er fing an lauter zu reden, als ihn die Sache richtig packte. Mit glitzernden Augen beugte er sich nach vorn.
    Ich lachte und unterbrach ihn. „Wenn ein Intellektueller nachdenkt, legt er den höchsten Gang ein, beugt sich vor, glotzt einen durchdringend an und geht praktisch mit jedem Wort die Wand hinauf. Wie du, Ahmed. Bist du ein Archetyp?“
    Er schüttelte den Kopf.
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