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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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Kleidungsstücke, Fotoapparate und immer wieder Uhren.
    »Das ist die Jacke meines Mannes!«, schrie eine Frau hinter Martin erbost.
    Schnell drehte er sich um. Gott sei Dank, sie meinte nicht ihn, sondern einen anderen jungen Mann, der ihr feixend eine Strickjacke hinhielt.
    »Noch nicht.«
    »Du Lump, ich habe die Jacke für Flüchtlinge gespendet! Und nicht, damit ein Gauner wie du sie hier verschachert.«
    »Seien Sie doch froh, dass Ihr Gatte die Jacke wieder tragen kann.« Er streckte ihr seinen anderen Arm hin und schob den Ärmel hoch. Um sein schmales Handgelenk trug er vier Uhren. »Deren ehemalige Besitzer können das nicht mehr.«
    Die Frau starrte ihn entgeistert an.
    »Was ist? Wollen Sie die Jacke nun oder nicht? Sie steht ihrem Mann sicher ausgezeichnet.«
    »Er ist tot!«
    Voller Ingrimm versuchte die Frau, dem Schieber die Jacke zu entreißen, der sie jedoch nicht losließ, bis beide mit einer Hälfte zurücktaumelten. Der junge Mann hielt ihr sein Teil hin.
    »Die Nähte sind etwas brüchig, echte Friedensqualität … sagen wir: dreihundert Mark?«
    Wortlos warf die Frau ihm den Fetzen vor die Füße und lief zur Straßenbahnhaltestelle, während er sich kopfschüttelnd dem nächsten Passanten zuwandte, um die zerrissenen Jackenteile doch noch an den Mann zu bringen.
    Hinter einem Trümmerhaufen – der Platz wurde auch als Zwischenkippe für die Schutträumungen der Innenstadtbereiche verwendet – probierte unterdessen eine Frau einen langen braunen Rock an und verwischte dabei die Strumpfnaht, die sie mit schwarzer Kohle auf ihre Wade gemalt hatte. Einige ehemalige Wehrmachtsoldaten in Uniform, die sie beobachteten, lachten mit unverhohlener Schadenfreude, gingen aber schnell weiter, als ein humpelnder Mann zu ihr trat. Sobald die Truppe die nächste Frau in der Menge ausfindig gemacht hatten, die allein unterwegs war, umkreisten sie diese wie Fliegen, zwei links, zwei rechts. Einer mit hölzernen Krücken in Zivil humpelte hinterher, doch von den Soldaten nahm keiner Rücksicht auf sein Bemühen, mit ihnen Schritt zu halten. Die meisten Opfer schüttelten die unliebsame Begleitung mit ein paar unwilligen Worten ab. Oder sie schwiegen wie die Frau im schlabbernden Herrenanzug so lange eisern, bis die Soldaten von ihnen abließen.
    Martin, der im Schatten der Markise des Ringcafés das Treiben der fünf Männer verfolgt hatte, fing von dem Krüppel einen finsteren Blick auf. Leicht schwankend war er einige Meter vor ihm stehen geblieben. Martin hob abwehrend die Hände, um zu signalisieren, dass von ihm trotz der amerikanischen Uniformjacke keine Gefahr ausging. Langsam war er es leid, blöde angeglotzt zu werden. Also verfolgte er Anne, die sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte, wie eine Schlafwandlerin, und hier und dort abrupt stehen blieb, als gehorchte sie stummen Befehlen.
    Auch vor dem Sendlinger Tor wurde er von den Passanten gemustert, seine Uniformjacke in Verbindung mit der Kordhose erregte Argwohn. Die meisten beschrieben einen Bogen um ihn. Nur eine alte Frau hielt zielstrebig auf Martin zu. Wenige Meter vor ihm stoppte sie jedoch, um aufmerksam die auf eine Bretterwand genagelten Bekanntmachungen der Militärregierung zu studieren sowie den Aushang, der auf die Verkürzung der Ausgangssperre aufmerksam machte. Dabei murmelte sie etwas, wobei sie sich anstrengte, so laut zu flüstern, dass Martin sie verstand.
    »Wattons. Wattons. Schwarz und braun, schwarz und braun.«
    Noch eine Verrückte. München war voll von ihnen.
    Da er nicht reagierte, kam sie näher und hielt ihm in einer runzligen Hand Knöpfe hin. Bevor er ihr verständlich machen konnte, dass er keine brauchte, waren sie von den uniformierten Wehrmachtsfliegen umringt. Der Größte und Älteste – etwa Mitte zwanzig, mit einer Narbe, die sich vom Ohr bis zum linken Mundwinkel zog – packte die Alte forsch am Handgelenk ihres ausgestreckten Arms und flüsterte mit stark amerikanischem Akzent: »Wenn du uns deine fucking Knöpfe gibst, legen wir good Wort beim Herrgott für dich ein. Ansonsten können wir für nichts garantieren.« Mit der anderen Hand deutete er Richtung Stachus. »Auf dem Karlstor steht dein Schicksal auf einem riesigen Plakat: DRIVE CAREFULLY. DEATH IS SO PERMANENT.«
    Seine Kumpel mussten an sich halten, um nicht loszuprusten. Mit einer ausladenden Geste nestelte er ein Fläschchen mit einer milchigen Flüssigkeit aus seiner Jackentasche.
    »Hier, sehen Sie, damit wäre Roosevelt noch am

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