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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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tut.
    »Nein, ich habe kein Licht mitgebracht«, antwortete Kossil hinter ihr. Auch Kossil sprach leise, doch in ihrer Stimme lag ein fremder Ton, als lächle sie. Und Kossil lächelte nie. Arhas Herz begann laut zu schlagen; das Blut pulsierte in ihrem Hals. Sie redete sich inständig zu: Dies ist mein Besitz, hierher gehöre ich, ich will mich nicht fürchten!
    Aber kein Wort kam über ihre Lippen. Sie bewegte sich langsam vorwärts, es gab keinen anderen Weg. Er führte in den Hügel hinein und abwärts.
    Hinter ihr kam die schweratmende Kossil; sie hörte, wie sich ihre Kleidung an den Felsen und an der Erde wetzte.
    Plötzlich wurde der Gang höher. Arha konnte aufrecht stehen, und als sie die Hände ausstreckte, fühlte sie keine Wände mehr. Die feuchte Luft, die sie bedrückt hatte und die nach Erde roch, war kühler hier, und schwache Strömungen ließen vermuten, daß sich vor ihnen eine große Höhlung auftat. Arha tat ein paar vorsichtige Schritte in die pechrabenschwarze Dunkelheit hinein. Ein Kiesel, von ihrer Sandale angestoßen, geriet in Bewegung, berührte einen anderen Kiesel, und das schwache Geräusch rief ein Echo hervor, das immer leiser, immer entfernter nachklang. Die Höhle mußte riesengroß, hoch und weit sein, doch sie war nicht leer: Irgend etwas in der Dunkelheit, unsichtbare Flächen oder Wände, zersplitterten das Echo in tausend Fragmente.
    »Wir müssen uns hier unter den Steinen befinden«, flüsterte Arha, und ihr Flüstern wurde von der hohlen Schwärze aufgenommen und in dünne Fäden aufgelöst, in Töne, fein wie Spinnweben, die noch lange im Gehör haften blieben.
    »Ja, jetzt befinden wir uns im unteren Grab. Weitergehen! Ich kann hier nicht stehenbleiben. An der linken Wand entlang gehen! An drei Öffnungen vorbei!«
    Kossils Flüstern klang zischelnd, und die tausend kleinen Echos zischelten hinter ihren Worten her. Sie hatte Angst, man spürte, wie die Angst sie packte. Es behagte ihr nicht, hier unter den Namenlosen zu sein, in ihren Gräbern, in ihren Höhlen, in dieser Dunkelheit! Ihr Platz war nicht hier, sie gehörte nicht hierher.
    »Das nächste Mal werde ich eine Fackel mitbringen«, sagte Arha, während sie sich an der Wand entlangtastete und sich über die seltsamen Formen im Fels wunderte, über die Vertiefungen und Erhöhungen, über die feinen Wölbungen und Kurven, über Kanten, die so uneben wie Spitzen, und andere, die so glatt wie Messing waren: Es mußte sich um Reliefs handeln, anders war das alles nicht zu erklären. Vielleicht war das ganze Riesengewölbe das Werk von Bildhauern einer vergangenen Epoche?
    »Es ist nicht gestattet, Licht hierherzubringen«, flüsterte Kossil scharf. Noch während sie sprach, wußte Arha, daß sie recht hatte. Hier war die Stätte der Dunkelheit, hier befanden sie sich im innersten Bereich der Nacht.
    Dreimal war Arha in dieser verwirrenden, felsigen Schwärze an einer Öffnung vorbeigekommen. Das vierte Mal tastete sie Höhe und Breite der Öffnung ab und trat ein. Kossil folgte.
    In dem Gang, den sie sich jetzt entlangbewegten, kamen sie linker Hand an einer Öffnung vorbei und folgten, als der Gang sich gabelte, der rechten Abzweigung. Blind tasteten sie sich auf diesem unterirdischen Weg durch die absolute Stille der Erde. Bei solch einem Unternehmen muß man ununterbrochen sowohl nach links als auch nach rechts greifen, damit man an keiner der zu zählenden Öffnungen vorbeigeht oder eine Gabelung verfehlt. Durch Tasten leitet man sich vorwärts, der Weg ist unsichtbar, man hält ihn in der Hand.
    »Ist das hier das Labyrinth?«
    »Nein, das sind nur die Irrgänge unter dem Thron.«
    »Wo ist der Eingang zum Labyrinth?«
    Arha fand allmählich an diesem Spiel im Dunkeln Gefallen. Sie suchte nach einer schwierigeren Aufgabe.
    »Es ist die zweite Öffnung im unteren Grab. Meine Herrin muß jetzt nach einer Holztür rechts suchen, vielleicht haben wir sie bereits verpaßt …«
    Arha hörte, wie Kossil mühsam an der Wand entlangtappte, wie sie sich am Fels stieß. Sie, Arha, berührte den Fels nur leicht mit den Fingerspitzen. Kurz darauf fühlte sie glattes Holz. Sie drückte ein wenig, es quietschte, und eine Tür drehte sich leicht in den Angeln und öffnete sich. Sie stand geblendet vom Licht und sah einen Augenblick lang überhaupt nichts.
    Sie betraten einen großen, niedrigen Raum mit Wänden aus zugehauenen Steinen, beleuchtet von einer rauchenden Fackel, die an einer Kette hing. Der Rauch hatte keinen Abzug
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