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Der Erdrutsch (German Edition)

Der Erdrutsch (German Edition)

Titel: Der Erdrutsch (German Edition)
Autoren: Stephan Martin Meyer
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schließlich
hätte ich unter normalen Umständen zur Schule gehen dürfen. Sie
hat mich auch nie geschlagen oder mich hungern lassen. Ich hatte
alles, was ich brauchte. Nur zu meiner Mutter durfte ich nicht. Auch
meine Freunde konnte ich nicht mehr sehen. Genau genommen habe ich in
der Zeit niemanden sehen dürfen. Außer ´Elsbeth´. Sie fand das
normal. Sie meinte, ich sei ihr Kind. Sie hat mich aber nie gefragt,
ob ich bei ihr bleiben wollte.
    Dreimal, so hat sie später in der Verhandlung behauptet, dreimal
habe ich versucht, von ihr wegzulaufen. Beim ersten Mal hat sie mich
am gleichen Tag noch im Wald gefunden. Verdreckt und hungrig war ich
vermutlich froh gewesen, wieder im Warmen zu sein. Das zweite Mal bin
ich nachts abgehauen. Niemand hat es gemerkt. Weder diese Elsbeth,
noch irgendjemand anders, denn nach zwei Tagen im Wald, halbtot vor
Angst, bin ich ihr in die Arme gelaufen. Danach war ich, so sagte sie
später, vier Wochen krank. Einen Arzt hat sie nicht gerufen. Dann
hätte sie ja erklären müssen, wer ich bin.
    Das dritte Mal bin ich wieder nachts unterwegs gewesen, bin aber
nicht in den Wald gelaufen, sondern auf der Straße geblieben. Beim
ersten Haus habe ich geklingelt. Den Bewohnern dieses Hauses müsste
ich ewig dankbar sein. Sie konnten sich wohl an meinen Namen
erinnern, aus der Presse, na es hatte ja einigen Wirbel gegeben, als
ich verschwand. Auf jeden Fall haben sie die Polizei gerufen. Elsbeth
wurde verhaftet und verurteilt. Na, könnte man da denken, das hat
sie ja auch verdient, nach Absitzen der Strafe soll es dann aber auch
mal gut sein. So habe ich es in den letzten Jahren immer wieder zu
hören bekommen. Das kann ich aber nicht. Könnt ihr euch in etwa
vorstellen, warum?“ Johan nickte langsam.
    „ Ich
kam also nach vier Jahren in meine richtige Familie zurück.
Vermutlich habe ich mich darauf gefreut wie auf Weihnachten, Ostern
und den Geburtstag zusammen. Aber es war scheiße, richtig
beschissen. Meine Mutter war fest davon überzeugt gewesen, dass ich
noch lebe. Dass ich irgendwann zurückkommen würde. Mein Vater hat
das auch getan. Ein paar Wochen lang. Dann konnte er nicht mehr. Er
hat für sich beschlossen, dass es besser ist, wenn er davon ausgeht,
dass ich tot bin. Du musst dir das so vorstellen: Während meine
Mutter nach und nach alle Freunde aus dem Haus vertrieb, indem sie
ausschließlich über mich sprach, hat mein Vater alles daran
gesetzt, mich zu vergessen. Er begann zu saufen, meine Mutter nahm
Tabletten. Dazwischen saß mein großer Bruder, ein paar Jahre älter
als ich, der das alles nicht verstand, mit dem sich niemand mehr
beschäftigt hat, der schlicht vergessen wurde. Niemand hat das
bemerkt.“
    Oskar atmete tief durch. Er wirkte sehr angestrengt, stockte immer
mal wieder. Vielleicht erzählte er zum ersten Mal so detailliert von
seinen Erlebnissen.
    „ Wenn
ihr jetzt glaubt, dass sich diese Situation mit dem Tag meiner
Rückkehr geändert hätte, dann habt ihr euch getäuscht. Als meine
Eltern erfahren haben, dass ich lebe, war mein Vater gerade in der
Kneipe. Meine Mutter musste sofort ins Krankenhaus gebracht werden,
weil sie zusammenbrach. Danach wurde es nicht besser. Mein Vater
konnte nichts anderes mehr tun, als zu saufen. Meine Mutter wollte
mich ununterbrochen im Arm halten. Und mein Bruder wurde immer noch
nicht beachtet. Nach vier Wochen hat sich das Jugendamt entschieden,
mich in einem Kinderheim unterzubringen, weil die Zustände nicht
mehr haltbar waren. Angeblich soll mein Vater im Suff auf alles
eingeschlagen haben, was sich bewegte. Ich war nur einen Tag lang im
Heim. Dann hat mich meine Tante Ingeborg zu sich genommen. Bei ihr
bin ich aufgewachsen. Dort habe ich zwar soetwas wie ein zuhause
gefunden. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie das damals getan hat.
Aber es war nunmal nicht meine richtige Familie. Es waren nicht die
Menschen, die ich vier Jahre lang vermisst hatte, auf die ich mich in
den ganzen Jahren jeden Tag gefreut habe.“
    Wieder machte Oskar eine Pause, dachte eine Weile nach. Dabei huschte
mehrmals ein Zucken durch sein Gesicht. Er schluckte und fuhr fort zu
erzählen.
    „ Mein
Vater hat die Familie dann verlassen. Von jetzt auf gleich. Ohne
Abschied. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Meine Mutter
auch nicht. Und mein Bruder erst recht nicht. Das war für meine
Mutter endgültig zu viel. Sie war immer wieder in der Psychiatrie,
seit ein paar Jahren ist sie ständig dort. Man kann sie nicht allein
lassen, sonst
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