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Der Engel mit den Eisaugen

Der Engel mit den Eisaugen

Titel: Der Engel mit den Eisaugen
Autoren: Mario Douglas & Spezi Preston , Mario Spezi
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konnten.
    »Diese These als umstritten zu bezeichnen ist untertrieben«, bemerkt Bowles trocken.
    Am Kriegsszenario wird noch ein weiterer, unheilvoller Effekt deutlich: Altruismus innerhalb der Gruppe erstreckt sich nicht auf Gruppen außerhalb, er darf es gar nicht. Die Angehörigen der anderen Gruppe müssen dämonisiert werden – würde man sie sonst töten? Sie sind alle böse bis ins Mark und müssen bestraft werden. Der Altruismus gilt nur innerhalb der Gruppe, nicht zwischen Gruppen – deshalb »parochial«, zur Gemeinde gehörig.
    In unserer modernen Gesellschaft kann diese Art von »parochialem Altruismus« schnell aus dem Ruder laufen – und das passiert auch des Öfteren. Beispiele finden sich in der Geschichte zuhauf: die Hexenprozesse in Europa, die Inquisition und zahllose, aus idiotischen Gründen geführte Kriege. Bestes Beispiel aus neuerer Zeit ist Deutschland unter nationalsozialistischer Herrschaft. Was war die sogenannte »Kristallnacht« anderes als ein Amoklauf »altruistischer Bestrafer«, die sich zusammenrotteten, jüdische Geschäfte zerstörten und unschuldige Menschen ermordeten, weil sie die »anderen« waren?
    »Die Empfindungen, aus denen die abscheulichste rassistische Politik gegen Ausgegrenzte entspringt«, schreibt Bowles, »haben evolutionär denselben Ursprung wie jene, die uns auf Naturkatastrophen reagieren lassen und uns dazu motivieren, anderen zu helfen. Es mag unser genetisches Vermächtnis sein, so sind wir geworden, was wir sind. Aber es muss nicht unser Schicksal sein.«
    Was hat das Ganze mit Amanda Knox zu tun? Blättern Sie doch wieder zurück, lieber Leser, und lesen Sie noch einmal die früher zitierten Kommentare – oder, noch besser, googeln Sie selbst. Sie werden feststellen, dass die meisten einem ähnlichen Muster folgen:
     
    Amanda Knox hat soziale Normen verletzt (sie ist sexgierig, pervers, eine Mörderin, Lügnerin etc.)
Sie muss bestraft werden.
Es wird eine geeignete Strafe vorgeschlagen (verbrennen, vergewaltigen, lebenslang wegsperren, in der Hölle schmoren).
     
    Das ist nichts anderes als die »Bestrafung Dritter« oder »altruistische« Bestrafung, auf das Internet übertragen.
    Früher erfolgte die Bestrafung Dritter in kleinen sozialen Gruppen, in denen jeder jeden kannte. Pauline Wiessner, Professorin für Anthropologie an der University of Utah, untersuchte die »Durchsetzung von Normen«, wie sie es nannte, bei den Jul’hoansi oder !Kung-Buschmännern im südlichen Afrika. Ihre Lebenswelt ähnelt heute noch stark derjenigen, in der auch wir uns entwickelt haben. Wenn bei den Buschmännern jemandem »unrecht« getan wird, schreitet der Betroffene nicht auf der Stelle zur Vergeltung, sondern spricht zuerst mit seinen Verwandten und Freunden über die Sache. Hast du gehört, was Soundso mir angetan hat? Ist das nicht schrecklich? Wenn die Freunde anderer Meinung sind als er, lässt derjenige, dem unrecht geschah, die Sache gewöhnlich auf sich beruhen. Stimmen sie ihm jedoch zu, dann folgen zahlreiche Debatten innerhalb der Gruppe darüber, was genau geschehen ist, warum es unrecht war und wie der Übeltäter bestraft werden sollte. Diese Debatten finden öffentlich statt, und der Täter sitzt entweder direkt dabei oder in der Nähe, so dass er mithören kann. Am Ende, wenn über die Strafe beschlossen worden ist, überträgt man die Aufgabe einem nahen Verwandten – so ist zum einen dafür gesorgt, dass die Strafe nicht unverhältnismäßig ausfällt, und zum anderen wird verhindert, dass zwischen den Familien Fehden entstehen.
    Übertragen wir diesen Ablauf auf unsere moderne Gesellschaft mit Polizei, Gesetzen und Gerichten, dann sehen wir, dass sich das Vorgehen gar nicht so sehr verändert hat. Rechtsverletzungen werden von neutralen Parteien untersucht und beurteilt. Dann werden die Informationen (»Beweise«) öffentlich auf formalisierte Weise und vor vielen anwesenden Personen diskutiert. Der nach dem Gesetz Angeklagte muss an diesen Diskussionen teilnehmen können. Der Ankläger muss dem Angeklagten direkt gegenübertreten. Der Prozess ist in jedem Stadium offen und überprüfbar. Und dann wird der Staat (nicht die Familie des Opfers) mit der Bestrafung betraut, damit keine Fehden oder Vendettas ausbrechen. Es ist ein großartiges, erstaunlich effektives Verfahren – einer der wertvollsten Aktivposten unserer Gesellschaft. Die westliche Welt brauchte viele Jahrhunderte mit blutigen Kriegen, um es zu entwickeln. Es ist eine
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