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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda
Autoren: Don DeLillo
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irgendetwas. Damit hat Vollmer vermutlich recht. Ich habe es selbst schon in der Stimme des Sprechers vernommen, in der Stimme des Colorado-Kommandos, obwohl doch unsere Nachrichten zensiert werden, Informationen, von denen sie finden, wir sollten sie in unserer besonderen Situation, unserer exponierten und verwundbaren Lage nicht wissen, teilen sie uns nicht mit. In seiner direkten, dumm klingenden und treffsicher beobachtenden Art sagt der junge Vollmer, dass die Menschen diesen Krieg nicht in demselben Maße genießen, wie Menschen Kriege immer genossen und von ihnen gezehrt haben, als etwas Erhabenes, eine zeitweise Intensivierung. Vollmer teilt viele meiner tiefgreifendsten,am zögerlichsten verteidigten Überzeugungen, das missfällt mir an ihm. Diese Gedanken, aus seinem sanften Gesicht, mit seiner aufrichtigen, volltönenden, unermüdlichen Stimme ausgesprochen, irritieren und besorgen mich, was sie niemals täten, blieben sie unausgesprochen. Für mich sollen die Worte verschwiegen sein, sich an eine Dunkelheit im tiefsten Inneren heften. Vollmers Offenherzigkeit legt etwas Schmerzliches bloß.
    Es ist nicht zu früh in diesem Krieg, um nostalgische Bezüge zu vergangenen Kriegen zu erkennen. Alle Kriege sind rückbezüglich. Schiffe, Flugzeuge, ganze Feldzüge sind nach alten Schlachten benannt, nach einfacheren Waffen, nach Konflikten, denen wir noblere Absichten unterstellen. Dieser Aufklärungsabfangjäger heißt Tomahawk II . Wenn ich an der Abschusskonsole sitze, sehe ich ein Foto von Vollmers Opa als jungem Mann mit ausgebeulten Khakihosen und mit flachem Helm, er steht auf einem kahlen Feld und hat ein Gewehr über der Schulter. Das ist eine kleine Menschlichkeit, und sie erinnert mich daran, dass Krieg unter anderem eine Art von Sehnsucht ist.
    Wir docken an die Kommandostation an, nehmen Essen an Bord, tauschen Kassetten aus. Der Krieg läuft gut, sagen sie uns, dabei ist es unwahrscheinlich, dass sie mehr wissen als wir.
    Dann koppeln wir uns wieder ab.
    Das Manöver funktioniert reibungslos, und ich bin glücklich und zufrieden, dass ich wieder menschlichen Kontakt mit der nächsten Form von Außenwelt aufgenommen habe, Witzchen und männliche Beleidigungen, Nachrichten und Gerüchteausgetauscht habe – Klatsch und Tratsch und Hörensagen. Wir verstauen unsere Vorräte an Brokkoli, Apfelwein, Fruchtsalat und Karamellpudding. Ich spüre etwas Anheimelndes, als ich die farbenfroh verpackten Waren wegstelle, ein Gefühl von gedeihlichem Wohlbefinden, den verlässlichen Komfort des Konsumenten.
    Auf Vollmers T-Shirt steht das Wort Aufschrift.
    »Die Menschen hatten gehofft, sie wären in etwas Größeres hineingeraten als sie selbst«, sagt er. »Sie dachten, es wäre eine gemeinsame Krise, sie würden eine gemeinsame Absicht, ein gemeinsames Schicksal empfinden. Wie einen Schneesturm, der eine große Stadt bedeckt – aber Monate andauert, Jahre, jeden mitnimmt, Gemeinschaftlichkeit schafft, wo es zuvor nur Verdacht und Angst gab. Fremde, die miteinander sprechen, Mahlzeiten bei Kerzenlicht, wenn der Strom ausfällt. Der Krieg würde alles veredeln, was wir sagen und tun. Das Unpersönliche würde persönlich werden, das Vereinzelte gemeinsam. Doch was geschieht, wenn das Gefühl einer gemeinsamen Krise schneller dahinschwindet als erwartet? Allmählich schwant uns, dass das Gefühl in einem Schneesturm länger anhält.«
    Eine Bemerkung zur selektiven Geräuschentwicklung. Vor achtundvierzig Stunden kontrollierte ich Daten auf der Einsatzkonsole, als mich eine Stimme bei meinem Bericht ans Colorado-Kommando unterbrach. Die Stimme ertönte unverstärkt und unter starkem Rauschen. Ich untersuchte meinen Kopfhörer, die Schalter und Lampen. Wenige Sekunden später kam das Signal vom Kommando zurück, und ich hörte unseren Flugdynamik-Offizier, der mich aufforderte, auf denstimulusredundanten Frequenzer auszuweichen. Ich tat es, was aber nur dazu führte, dass die schwache Stimme wieder hörbar wurde, eine Stimme, die eine merkwürdige, unbestimmbare Schärfe in sich trug. Sie kam mir bekannt vor. Ich meine nicht, dass ich den Sprecher zu kennen glaubte. Der Ton kam mir bekannt vor, berührte mich wie ein halb erinnertes, fragiles Ereignis, auch durch das Rauschen hindurch, den Schalldunst.
    Wie dem auch sei, das Colorado-Kommando begann in Sekundenschnelle wieder mit der Übertragung.
    »Wir haben einen Abweichler, Tomahawk.«
    »Verstanden. Da ist eine Stimme.«
    »Wir haben hier heftige
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