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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda
Autoren: Don DeLillo
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entlang zur offenen Tür des Taxis. Rupert saß am Steuer, seinen Orden an der Brust. Der Motor lief.

KLEINEMENSCHLICHKEITEN
IM DRITTEN WELTKRIEG
    Eine Anmerkung zu Vollmer. Er beschreibt die Erde nicht mehr als Bibliotheksglobus oder zum Leben erwachte Landkarte, als kosmisches Auge, das in die Weiten des Weltraums starrt. Letzteres Bild war sein ehrgeizigster Versuch in Sachen Metaphorik. Durch den Krieg sieht er die Erde anders. Die Erde ist Land und Wasser, die Heimstatt sterblicher Menschen, in gehobenem Wörterbuchvokabular. Er sieht sie nicht mehr (sturmspiralig, meereshell, Hitze, Dunst und Farbe atmend) als Anlass für pittoreske Sprache, ruhiges Spiel oder Spekulation.
    Auf zweihundertzwanzig Kilometer erkennen wir das Kielwasser von Schiffen und die größeren Flughäfen. Eisberge, Blitze, Sanddünen. Ich zeige auf Lavaströme und Kaltkernwirbel. Dieses Silberband vor der irischen Küste, erkläre ich ihm, ist ein Ölteppich.
    Dies ist meine dritte Mission in der Umlaufbahn und Vollmers erste. Er ist ein Ingenieursgenie, ein Kommunikations- und Waffengenie und vielleicht auch ein Genie auf noch anderen Gebieten. Als Missionsspezialist bin ich damit zufrieden, dass die Befehlsgewalt bei mir liegt. (Der Begriff Spezialist bezeichnet im Standardgebrauch des Colorado-Kommandos jemanden, der sich nicht spezialisiert hat.) Unser Raumschiff hat vor allem die Aufgabe, Daten zu sammeln. Die Verfeinerung der Quantum-Burn-Technik erlaubt uns,die Umlaufbahn häufig anzupassen, ohne jedes Mal Raketen abzufeuern. Wir schwingen uns auf hohe, weite Flugbahnen hinaus, um im übersinnlichen Widerschein der ganzen Erde unbemannte und womöglich feindliche Satelliten zu inspizieren. Wir umkreisen die Erde kuscheldicht und erlauben uns tiefe Einblicke in Oberflächenaktivitäten an unbereisten Orten.
    Das Verbot von Atomwaffen hat die Welt sicher für den Krieg gemacht.
    Ich versuche, große Gedanken oder mäandernde Abstraktionen zu vermeiden. Aber manchmal überkommt mich der Drang danach. Die Erdumlaufbahn versetzt Menschen in philosophische Laune. Wie auch anders? Wir überblicken den vollständigen Planeten, wir haben eine privilegierte Aussicht. In unseren Bemühungen, der Erfahrung gerecht zu werden, neigen wir zur Ergründung wichtiger Themen wie der Conditio humana. Da fühlt sich der Mensch wahrhaft universell, wenn er über den Kontinenten schwebt, den Rand der Welt sieht, der als Linie nicht minder deutlich ist als ein Kompassbogen, und weiß, nur eine kleine Drehung, und schon erkennt er die Dämmerung des Atlantiks, Sedimentfedern und Tangbetten und eine Inselkette, die im fast dunklen Ozean schimmert.
    Ich sage mir, es ist nur ein Panorama. Ich betrachte unser Leben hier lieber als normal, als ein Haushaltsarrangement, eine unwahrscheinliche, aber handhabbare Situation, die durch Wohnraummangel oder Frühjahrsüberschwemmungen im Tal hervorgerufen wurde.
    Vollmer geht die System-Checkliste durch und legt sich dann in seine Hängematte. Er ist dreiundzwanzig, ein Junge mitlänglichem Kopf und kurz geschorenen Haaren. Er redet von Nord-Minnesota, während er die Gegenstände aus seinem persönlichen Lieblingssachen-Set nimmt und auf eine Klettband-Oberfläche neben sich platziert, um sie zärtlich in Augenschein zu nehmen. Ich habe einen Silberdollar von 1901 in meinem persönlichen Lieblingssachen-Set. Daneben wenig Nennenswertes. Vollmer hat Fotos von seinem Schulabschluss, Kronkorken, kleine Steine aus seinem Garten. Ich weiß nicht, ob er diese Dinge selbst ausgesucht hat oder ob seine Eltern sie ihm aufgezwungen haben, aus Angst, seinem Leben im Weltraum würde es sonst an kleinen Menschlichkeiten fehlen.
    Unsere Hängematten sind wohl kleine Menschlichkeiten, obwohl ich nicht weiß, ob das Colorado-Kommando es so gemeint hat. Wir essen Hotdogs und Mandel-Müsliriegel und benutzen einen Lippenpflegestift, das gehört zur Checkliste vorm Schlafengehen. An der Abschusskonsole tragen wir Pantoffeln. Vollmers Footballtrikot ist eine kleine Menschlichkeit. Übergröße, violett und weiß, aus Polyesternetzgewebe, mit der Nummer 79, der Nummer eines großen Mannes, eine Primzahl ohne besondere Bedeutung, in dem er aussieht, als hätte er abfallende Schultern und einen abnorm lang gezogenen Körperbau.
    »Sonntags krieg ich immer noch Depressionen«, sagt er.
    »Haben wir hier Sonntag?«
    »Nein, aber da unten, und das fühle ich noch. Ich weiß immer genau, wann Sonntag ist.«
    »Warum kriegst du
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