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Der eiskalte Himmel - Roman

Der eiskalte Himmel - Roman

Titel: Der eiskalte Himmel - Roman
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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nicht berühmter Mann. Meinen muffigen Ölzeugspind könnte er in Tagesfrist in eine reich verzierte Kammer verwandeln. Sie wäre zwar noch genauso unbequem und finster, doch ich bin mir sicher, es würde hier so duften wie nach einem Sommerregen im Obstgarten unseres alten Kontormeisters Simms.
    In den Newporter Alexandra Docks übernahm ich eine Reihe kleinerer Jobs: Botengänge, Flick- und Malerarbeiten. Nach Schichtende mischte ich mich unter die Seeleute, die Pfeife rauchend am Wasser saßen und von den Häfen erzählten, in denen sie gewesen waren. Nie nahm einer der Matrosen Notiz von mir. Ich hockte auf dem Berg Kabeltau, den ich seit dem frühen Morgen gespleißt hatte, und merkte, wie ich Stück für Stück immer weiter in mich zusammensank. Ich war so müde wie Checker, der Hund, der durch den Ärmelkanal schwamm.
    Die Augen fielen mir zu und die Ohren, so kam es mir vor, auch. Mit einem halben Ohr hörte ich noch, wie sie über die Häuser redeten, die sie in New York besuchen wollten: dass amerikanische Freunde von ihnen versprochen hätten, auf dem Hoboken-Kai zu sein, wenn der Pott in Manhattan anlegte, um sie mitsamt ihren Seekisten geradewegs zum Times Square mitzunehmen, wo die feinen Freunde angeblich wohnten. Der »Froschteich« war ihnen herzlich gleichgültig. Es schien sie nicht im mindesten zu interessieren, dass sie zuvor den Atlantik von Newport nach New York überqueren mussten. Tausende Kilometer schäumenden Ozeans, in dem neben einem ganzen Haufen anderer Unwägbarkeiten auch die Unterseebootflotte des deutschen Kaisers auf der Lauer lag, waren für sie nicht der Rede wert.
    Den meisten Matrosen, die ich kennen gelernt habe, scheint das Meer nichts zu bedeuten. Sie tun gerade so, als sei es gar nicht da. Wer will das begreifen? Ich stelle mir meinen Vater vor, der alles liebt, was aus Holz ist. Wie wäre es, wenn er so täte, als sei an einem Baum nichts Besonderes? Hier, meine kalte Plankenwand: Zwei, drei Handbreit dahinter ist nichts als Wasser. Auch im Dunkeln wüsste er sofort, aus welchem Baum sie ist. Er würde daran riechen, einmal mit der Hand darüberfahren … »Ulme, Junge, Ulme.«
    Ein paar Abende an der Pier, und ich wusste nicht mehr, was ich von Seeleuten halten sollte. Nur so viel wurde mir klar: dass diese Männer, die oft nur ein paar Jahre älter waren als ich, bestimmt nicht die Sonntagsschule besucht haben konnten. Denn sie fluchten und logen, dass mir Hören und Sehen verging. Inzwischen weiß ich, dass die einzige wahre Liebe dieser gelbzähnigen Maulhelden die Liebe zur Übertreibung ist. Vor ein paar Monaten wusste ich es noch nicht, weswegen ich auch nicht merkte, dass ich schon längst angesteckt war und alles, was ich fühlte, genauso hoffnungslos übertrieb.
    Mein Vater schickte mich ab und zu in die Skinner Street, um beim dortigen Schiffsausrüster Muldoon eine Rechnung zu bezahlen. So lernte ich sie kennen: Ennid.
    Es dauerte Monate, so kam es mir vor, bis ich mit Ennid Muldoon ins Gespräch kam. Denn zunächst verständigten wir uns abgesehen von den üblichen Begrüßungsformeln nur über Zahlen. Wenn ich den Laden betrat, grüßte ich, wie es sich gehört. Mister Muldoon musterte mich. Ennid erwiderte meinen Gruß. Ich nannte meinen Namen, und Mister Muldoon klappte ein rot eingeschlagenes Buch auf und reichte es seiner Tochter. Ennid nahm das Buch, kam damit zu mir gehinkt – sie hat einen Gehfehler – und sagte: »97.« Ich öffnete Dads Börse und zählte die Summe ab: »97.« Ennid zählte Scheine und Münzen nach: »97!« Im nächsten Moment stand ich draußen vor dem ganz mit grünen Blechplättchen beschlagenen Haus in der Skinner Street und wusste nicht, wie mir geschehen war.
    Taumelnd lief ich zum Hafen hinunter. Aber ich sah die Schiffe gar nicht. Ich war so glücklich, ich hätte den erstbesten Matrosen, der mir an der Pier entgegengeschlurft kam, auf den Mund küssen mögen. Und bestimmt hätte ich ihn wenigstens so angelächelt, wie Ennid Muldoon mich angelächelt hatte, wenn ich nicht so traurig gewesen wäre.
    Dreht es sich ums Älterwerden, ums Reifen an einer schwierigen Lebenslage, pflegt mein Vater zu sagen, dass man immer derselbe sei: Alles, was sich im Laufe des Lebens verändert, ist in den Augen meines Alten Herrn die wachsende Fähigkeit,
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