Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der einaeugige Henker

Der einaeugige Henker

Titel: Der einaeugige Henker
Autoren: Jason Dark (Helmut Rellergert)
Vom Netzwerk:
Vielleicht ein Zucken, das war auch alles. Als hätte jemand mit einem Bleistift etwas Dünnes gezeichnet. Ein komischer Vergleich, aber er kam mir in den Sinn.
    Viel mehr sah ich nicht. Die Fläche war so, wie sie war. Sie wurde auch nicht grauer, und die Warnung auf meiner Haut hatte sich auch wieder verflüchtigt.
    Der Pfarrer stieß mich an. »War es dieser Henker? Dieser Kerl aus dem Mittelalter? Haben Sie ihn gesehen?
    »Keine Ahnung. Wohl eher nicht.«
    Er deutete auf den Spiegel. »Aber Sie haben etwas mitbekommen, sonst hätten Sie anders reagiert.«
    Ich nickte.
    »Gut, dass Sie es zugeben. Aber Sie wollen mir nicht sagen, was es genau war?«
    »Nein. Es muss aber mit dem Spiegel in Zusammenhang stehen.«
    Ich tat endlich das, was ich schon zuvor hatte tun wollen. Auf den Spiegel zugehen und ihn anfassen.
    Dafür musste ich nicht mal meinen Arm groß ausstrecken. Ich strich zunächst mit der Handfläche über den Rahmen. Danach berührten meine Fingerspitzen die Glasfläche – und sie wären beinahe zurückgezuckt, denn die Fläche sah zwar normal aus, aber sie war es nicht, denn sie fühlte sich warm an. Ungefähr so wie die Haut eines Menschen.
    Ich zog die Hand wieder zurück und sah, dass Henry Hope mich von der Seite anschaute.
    »Da war doch was!«
    »Ja.«
    »Und was?«
    Ich antwortete zuerst mit einem Lächeln. Dann sagte ich: »Die Spiegelfläche ist warm.«
    »Warm?«
    »Ja.«
    »Wie kann das sein?«
    Ich erklärte es ihm. Der Pfarrer hörte interessiert zu und gab dann seinen Kommentar ab.
    »Aber Sie haben nicht das gesehen, was mir aufgefallen ist. Diesen Henker im Spiegel.«
    »So ist es.«
    »Glauben Sie mir denn?«
    »Ja, warum sollte ich Ihnen nicht glauben?«
    »Weil es nicht zu erklären ist.«
    Da musste ich lachen. »Sie glauben gar nicht, wie oft ich mit derartigen Fällen zu tun habe.«
    »Ja, das gibt mir Hoffnung. Aber wir können festhalten, dass mit dem Spiegel etwas nicht stimmt.«
    »So kann man es sehen«, gab ich zu.
    Henry Hope schaute zum Spiegel hin und schüttelte den Kopf. »Was sollen wir machen? Aufgeben und die Sache auf sich beruhen lassen? Dass Sie sich wieder in ihr Auto setzen und zurück nach London fahren und einen alten Spinner wie mich allein zurücklassen?«
    Meine Entscheidung traf ich schnell. »Nein, das werden wir nicht tun.«
    »Hört sich schon mal nicht schlecht an. Aber was haben Sie sich denn gedacht?«
    Ich lächelte und meinte: »Sie können mir helfen.«
    »Okay. Aber wobei?«
    »Beim Abnehmen des Spiegels.«
    Er sagte nichts, er schaute mich nur mit einem Blick an, der Unverständnis zeigte.
    »Ja, das war kein Witz.«
    »Und was soll das?«
    »Nehmen wir ihn erst mal ab.«
    »Ja, wie Sie meinen. Ich bin immer dafür, auch mal andere Wege zu gehen.«
    »Hatten Sie ihn schon mal abgenommen?«, wollte ich wissen.
    »Nein, ich nicht. Mein Vorgänger. Da wurde die Kirche gestrichen. Das wäre zwar mal wieder nötig, aber das Geld dafür ist nicht vorhanden. Und freiwillig streicht in der heutigen Zeit niemand mehr. Ich meine nur für Gotteslohn.«
    »Das kann ich mir vorstellen.«
    Dass der Spiegel nicht leicht war, lag auf der Hand. Deshalb waren auch zwei Männer nötig, um ihn vom Haken zu nehmen. Es war gut, dass vier Hände zugepackt hatten. Mir wäre er wahrscheinlich weggekippt. So aber konnte ich ihn gut halten und auch dafür sorgen, dass er sacht auf dem Boden zu liegen kam.
    »Geschafft.« Der Pfarrer rieb seine Handflächen. »Und jetzt bin ich gespannt.«
    »Das können Sie auch sein.«
    »Was haben Sie denn vor?«
    Da der Spiegel auf dem Boden lag, muss ich in die Knie gehen, um ihn zu berühren. Genau das hatte ich vor. Die Spiegelfläche war wichtig. Sie würde ihr Geheimnis preisgeben, wenn ich den richtigen Weg fand.
    Ich schaute sie an.
    Ich sah mich dabei. Und es gab keine Veränderungen. Ich sah mich nicht verzerrt und auch nicht verschwommen. Es war alles klar und völlig normal, was die Fläche zurückwarf. Damit hatte ich überhaupt keine Probleme.
    Auch der Pfarrer war in die Hocke gegangen. Er schaute genau hin, er suchte, doch er fand nichts, was ungewöhnlich gewesen wäre. Dann glitt er mit der Handfläche über den Spiegel hinweg, ohne jedoch etwas zu spüren, was ihn misstrauisch gemacht hätte.
    »Haben Sie nicht vorhin von einer gewissen Wärme gesprochen, Mister Sinclair?«
    »In der Tat.«
    »Und jetzt?«
    Ich fühlte selbst nach, nickte und sagte mit leiser Stimme: »Ja, jetzt ist nichts mehr davon zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher