Der Eid der Heilerin
Ecke am Feuer saß und in einem kostbar illustrierten Messbuch las, sah kurz zu Anne hinüber und wunderte sich über ihren abwesenden Tonfall. Er hatte in den vergangenen Tagen abgenommen und trug eine unglückliche Miene zur Schau. Er und Anne hatten seit ihrer Ankunft in der Abtei kaum miteinander gesprochen, denn auch er hatte die meiste Zeit mit den Gebeten verbracht, die der Abt ihm auferlegt hatte, dem er alles gebeichtet hatte, einschließlich der Gründe, die ihn bewogen hatten, Anne an den Königshof zu bringen. Es war lange her, dass er ernsthaft gebetet hatte, und es war eine schwere und demütigende Erfahrung gewesen. Nun wagte er kaum, dem Mädchen in die Augen zu sehen, da dies nur die Wunden wieder aufgerissen hätte. Die Wunden seines Verrats. John Millington hatte ihm schwere Bußübungen auferlegt, die er streng einhielt. Er hatte sich einverstanden erklärt, nach dem Verlassen seiner kirchlichen Zufluchtsstätte eine Pilgerfahrt zum Grab des heiligen Jakob von Compostela zu machen und danach fünf Jahre lang in jeder Stadt, in die er kam, den Armen zu dienen. Es würde nicht einfach werden, doch vielleicht vermochte es ihm Frieden zu schenken.
Für Anne gab es weder Frieden noch Schlaf. Mühsam hatte sie endlich die letzten Sätze an den Brief angefügt, den sie zuvor im Salon des Abts entworfen hatte. Jedes Wort war wie der Schlag einer fernen Glocke, vielleicht einer Feuerglocke, die von Gefahr kündete. Und dann war alles geschrieben, was geschrieben werden musste. Sie unterzeichnete mit einem einzigen Wort: »Anne« Auch sie war von königlichem Blut, somit war es ihr gutes Recht. Später lag sie auf ihrem harten, schmalen Lager in ihrer Zelle und starrte an die Decke. Neben ihr war das friedliche Atmen von Deborah zu hören. Sie lauschte den fernen Festgeräuschen aus dem Palast. Sie sah ihn klar und deutlich an der Ehrentafel sitzen - und neben ihm die Königin und William Hastings. Und sie war nicht dort, würde es vielleicht niemals, niemals wieder sein.
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Kapitel 43
Der Valentinstag war gekommen, und schon beim ersten Licht des frühen Morgens summte das Turniergelände wie ein Ameisenhaufen, denn die Bewohner der Stadt kamen zu Tausenden, um sich die besten Plätze für das Turnier zu sichern.
Der König hatte ein Gelände in West Smithfield ausgesucht, wo bereits seit drei Wochen die Maurer, Zimmerleute,
Maler und Zeltmacher emsig nach Anweisung von William Hastings ihre Arbeit verrichteten. Bunt bemalte Zuschauertribünen säumten die Seiten des dreihundert Fuß langen Spielfelds, das von einer doppelten Palisade umgeben war. Hinter dem Zaun waren Zelte für die Kämpfer errichtet worden. Die Ehrenloge, in der die Königin und ihre Damen, die ehrwürdigen Ritter, die nicht am Turnier teilnahmen, und andere Ehrengäste sitzen sollten, war drei Stockwerke hoch und mit allerlei allegorischen Figuren golden verziert. Uber allem erhob sich ein mächtiger Fahnenmast, an dem an diesem Tag die persönliche Standarte des Königs kühn im scharfen Wind flatterte.
Daneben befand sich ein zweites, etwas niedrigeres Podium für den Bürgermeister und die Ratsherren. Dies war Anlass für allerlei Gerede, da der König wieder einmal die Kaufleute, die Richter und niederen Magnaten begünstigte. William oblag an diesem Tag die Überwachung der Wettkämpfe - eine ganz besondere Ehre. Er sollte den Turnierablauf von einem speziell für diesen Zweck vor der Ehrenloge der Königin errichteten Podest aus dirigieren.
Unter allen Zelten, die in den vergangenen Tagen errichtet worden waren, war Edwards das größte. Es enthielt beinahe so viele Räume wie ein kleines Schloss, obwohl es ebenerdig war, und die aus Holz und Segeltuch gefertigten Wände waren mit einem Scheinmauerwerk bemalt. Umgeben war es von einem »Wald« aus halb hohen, in Kübel- gepflanzten Bäumen, an denen schon das erste Frühlingsgrün spross, da sie in einem Wärmehaus vorgetrieben worden waren.
Man konnte sich kaum vorstellen, dass dies nur eine provisorische Anlage für fünf Tage sein sollte.
Vor dem Beginn der Kämpfe ruhte der König in seinem prachtvollen Gemach auf einem reich geschnitzten, vergoldeten Prunkbett. In der vergangenen Nacht und am Morgen hatte er das Bett der Königin meiden können, ebenso wie ein Gespräch über seine Abwesenheit vor dem Festmahl. Er hatte sich damit entschuldigt, dass er Zeit haben müsse, mit seinen Rittern für den Sieg zu beten, wenn er erfolgreich für ihre Ehre
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