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Der Duft

Titel: Der Duft
Autoren: Aufbau
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schnürte sich zusammen, als ihr klar wurde, |15| dass sich ihre schlimmsten Ahnungen bestätigten. Sie zwang sich, die Zweige eines dichten Gebüschs beiseitezuschieben.
    Es war eines der Weibchen. Joan hatte sie Lucy getauft, weil sie immer ein bisschen dominant und frech gewirkt hatte – so
     wie die Figur in den Peanuts-Comics. Lucy lag unter hoch aufragenden Farnen auf dem Rücken. Ihre leeren Augen starrten hinauf
     in das lichtdurchflutete Blätterdach. Der intelligente, beinahe verschmitzte Ausdruck, der in diesen Augen gelegen hatte,
     war für immer verschwunden.
    Joan verscheuchte die Fliegen, die sich auf Lucys schrecklich zugerichtetem Körper niedergelassen hatten. Das schwarze, seidige
     Haar war blutverklebt. Hals und Brust wiesen mehrere tiefe Fleischwunden auf. Ein ganzes Stück ihrer Schulter sowie ein Teil
     des linken Unterarms fehlten.
    Das Entsetzen raubte ihr den Atem. Sie hatte Fotos von Gorillakadavern gesehen, die von den Macheten der Wilderer brutal verstümmelt
     worden waren, aber keiner der Körper war so zerfetzt gewesen. Die Wunden waren nicht glatt, sondern unregelmäßig und ausgefranst.
     Es sah aus, als habe jemand mit einem nicht mehr scharfen Dolch oder einem spitzen Dorn brutal auf den Gorilla eingestochen.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis sie einen klaren Gedanken fassen konnte. Was war hier geschehen? Wo war der Rest von Gruppe
     5? Wieso hörte sie keine aufgeregten Rufe, kein erregtes Brusttrommeln? Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und zwang
     sich, der Spur weiter zu folgen.
    Wenige Minuten später hatte sie die schreckliche Gewissheit: Kando, Lisa, Jenny und Mira, die vier übrigen Weibchen, die beiden
     Jungtiere Benni und Bob, sogar der mächtige Silberrücken Cato – sie alle lagen verstreut über |16| eine Fläche von mehreren hundert Quadratmetern, auf die gleiche bestialische Weise zugerichtet. Die Leichen von zwei der jungen
     Schwarzrücken, die sie als Jojo und Alfred erkannte, fand sie auf merkwürdige Weise ineinander verschlungen, als hätten sie
     noch im Tod die Nähe zueinander gesucht und sich zum Trost umarmt. Tom und Jerry, ebenfalls junge Männchen, lagen nicht weit
     davon entfernt auf dem Bauch. Eine Blutspur führte durch das Blattwerk, es sah so aus, als hätten sie sich noch schwer verletzt
     vom Ort des Grauens fortschleppen wollen.
    Joan ging mit steifen, beinahe roboterhaften Schritten zwischen den Kadavern umher. Ihre Augen nahmen die Bilder auf, aber
     ihr Gehirn weigerte sich, sie zu verarbeiten. Sie war wie betäubt. Das, was hier geschehen war, passte nicht in ihren Kopf.
    Es war undenkbar, dass die Katastrophe einen natürlichen Ursprung hatte. Kein Lebewesen des Waldes wäre in der Lage gewesen,
     einer gesunden Gorillagruppe etwas Derartiges anzutun. Es gab nur eine Lebensform, die zu solcher Grausamkeit fähig war.
    Joan spürte kaum die Tränen auf ihren Wangen. Sie betrachtete den entsicherten Revolver in der Hand, aber es gab kein Ziel,
     an dem sie ihre ohnmächtige Wut hätte auslassen können. Sie war fast froh, dass die Verantwortlichen für dieses Verbrechen
     offenbar nicht mehr in der Nähe waren, denn sie hätte sich des Mordes schuldig gemacht, wäre sie einem der Wilderer begegnet.
    Gorillas waren schon früher auf grausame Weise von Menschen getötet worden. Sie hatten sich in den Schlingen der Wilderer
     verfangen und sich üble Verstümmelungen zugezogen, an deren Folgen einige verendet waren. Erwachsene Tiere hatte man erschossen,
     um ihre Jungen in Zoos zu verschleppen. In einigen seltenen Fällen waren Gorillas mit Wilderern oder mit Hirten aneinandergeraten, |17| die ihre Rinder verbotenerweise in die Randbezirke des Nationalparks getrieben hatten. Joan hatte einmal Fotos eines Silberrückens
     gesehen, der während des ruandischen Bürgerkriegs von den Splittern einer Armeegranate getötet worden war. Aber nichts von
     alldem reichte an die sinnlose Gewalt heran, die hier gewütet hatte.
    Es war einfach unfassbar. Eine ganze Familie ausgelöscht. Dreizehn Tiere. Für den Fortbestand der Berggorillas war das eine
     Katastrophe.
    Als sie die Fundorte der Leichen auf der Suche nach Spuren der Mörder noch einmal abging, fiel ihr auf, dass es nur zwölf
     Tiere waren. Onkel Sam, der älteste der Schwarzrücken, fehlte. Offenbar war er dem Massaker entkommen. Vielleicht war er rechtzeitig
     geflohen, oder er hatte sich schwer verletzt davonschleppen können und lag nun irgendwo in einem Gebüsch und
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